Im New York Times Magazine vom 13. April 2025 erschien ein ausführlich recherchierter Beitrag von Paul Tough mit einer schrillen Überschrift, nämlich dass alles, was wir bislang über das Aufmerksamkeitssyndrom (ADHS/ADS) meinten zu wissen, womöglich so nicht haltbar sei. Für die einen, die schon immer der Meinung waren, dass die Kinder mit Ritalin und vergleichbaren Medikamenten nur psychopharmakologisch vergiftet würden, mag dies eine willkommene Bestätigung ihrer Ansichten sein. Für andere, insbesondere für Eltern, deren Kind über Jahre solche Medikamente erhielt und die durch ärztliche Beratung dazu angehalten wurden, die Störung als mit einer Zuckerkrankheit vergleichbar anzusehen, also als einen körperlichen Defekt, der dauernder Medikamentenbehandlung bedarf, mag dies umso verstörender erscheinen.
Der keineswegs reißerische, auch nicht einseitig Partei ergreifende, aber sehr lange Artikel sei hier in seinen wesentlichen Aussagen zusammengefasst:
- Im Zeitverlauf zeigt sich eine beunruhigende, anscheinend unaufhaltsame, und nicht plausible Zunahme dieser Diagnose bzw. der Amphetaminbehandlung.
Die Experten waren in den Anfangsjahren der diagnostischen Fixierung des ADS wenig überrascht, dass es in den Folgejahren zu einer Zunahme von ensprechenden Diagnosen im Kinderalter kam. Erwartet wurde jedoch, dass sich bei einer Häufigkeit von 3 % ein Plateaueffekt ausbilden würde. Stattdessen gingen die Zahlen für die Häufigkeit der Diagnose und die der medikamentös behandelten Kinder, Jugendlichen (und später auch) der jungen Erwachsenen aber kontinuierlich bergauf. Im letzten Jahr hätte das amerikanische Center for Disease Control and Prevention einen Wert von 11,4 % ermittelt. Die Rate der Verschreibungen sei zwischen 2012 und 2024 um 58% angestiegen. - Die Wirksamkeit der Medikamente hält anscheinend nicht lange an.
Dass mit Ritalin behandelte Kinder und Jugendliche gegenüber einer Vergleichsgruppe bei einer Nachkontrolle 14 Monate später signifikant weniger Krankheitszeichen zeigten, ließ sich in zahlreichen Studien belegen. Dies hat den steilen Erfolgskurs der Behandlung begründet. In späteren Jahren wurden aber Verlaufsuntersuchungen durchgeführt, die ein größeres Zeitfenster (3 Jahre) zur Nachbeobachtung hatten und auch einen breiteren Vergleich ermöglichten (eine Gruppe nur mit Ritalin, eine mit Ritalin plus Verhaltenstraining, eine nur mit Verhaltenstraining und eine Kontrollgruppe, in der die Betroffenen selbst sehen sollten, wie sie mit ihrer Symptomatik zurechtkommen). Hier zeigte sich zur allgemeinen Ernüchterung, dass sich die vier Untersuchungsgruppen drei Jahre nach Beginn der Therapie nicht mehr nennenswert unterschieden! - Zentrale Annahmen, auf denen die medikamentöse ADS-Behandlung beruht, ließen sich nicht bestätigen oder sogar widerlegen.
Die medikamentöse ADS-Behandlung unterstellt, dass den Symptomen erstens eine medizinische/körperliche Ursache zugrundeliegt, die (deshalb) mit Medizin angegangen werden muss. Die Ursache wird zweitens als veränderter Hirnstoffwechsel vermutet, weshalb es Sinn macht, in diesen korrigierend einzugreifen. Drittens wird unterstellt, dass mit den die Aufmerksamkeit modulierenden Medikamenten dieser Defekt ausgeglichen werde. Keine dieser Annahmen, die auch als medizinisches Krankheitsmodell zusammengefasst werden können, ließ sich empirisch zufriedenstellend bestätigen. - Alle Bemühungen, ein biologisches Substrat des ADS zu identifizeren (einschließlich genetischer Faktoren), sind bislang gescheitert.
Übereinstimmend mit dem medizinischen Krankheitsmodell entwickelte sich ein kategoriales Krankheitsverständnis von ADS in dem Sinne, dass man ADS entweder hat oder nicht hat (so wie man entweder Diabetes hat oder gesund ist), und dass diese Störung als Eigenschaft des Betroffenen dauerhaft vorliegen würde. Der früher selbst mit Lernschwierigkeiten geplagte, heute an einer britischen Universität lehrende Entwicklungspsychologe Prof. Sonuga-Barke wird in dem Artikel mit folgenden den Worten zitiert: „In Wirklichkeit gibt es buchstäblich keinen natürlichen Schnittpunkt, an dem man sagen könnte: ‚Diese Person hat ADHS, und diese Person hat es nicht‘. Diese Entscheidungen sind bis zu einem gewissen Grad willkürlich. Das bedeutet nicht, dass das mit ADHS verbundene Leiden imaginär ist. Es bedeutet nur, dass es sich auf einem Kontinuum befindet„. Und das sei nicht nur ein Rätsel, sondern stelle die eigentliche Erkenntniskrise der ADS-Forschung dar. - Die medikamentöse Beruhigung der Symptome trägt nicht zur Leistungsverbesserung bei.
Inzwischen ist auch leider hinreichend belegt, dass die medikamentösen Effekte nicht nur im Zeitverlauf verblassen (siehe oben), sondern es wurde auch deutlich, dass die Lernleistung trotz (anfangs) gebesserter Aufmerksamkeit nicht davon profitiert. Es scheint also eher eine „gefühlte“ Verbesserung des Lernens unter der Medikation zu geben. Das heißt zum Beispiel, dass die Fähigkeit gesteigert wird, sich mit als langweilig empfundenen Aufgaben „konzentriert“ zu befassen – aber ohne, dass das leistungsmäßig etwas erbringt. - Die Langzeitbehandlung führt stattdessen zu einer unbeabsichtigten Beeinträchtigung des Langenwachstums.
Während die Studienergebnisse zu den Ergebnissen der Langzeitmedikation sowohl mit Blick auf die Kernsymptome als auch mit Blick auf die kognitive Leistungsähigkeit dürftig und enttäuschend ausfielen, zeigte sich ein unerwarteter Effekt immer wieder in den Verlaufsstudien: das Längenwachstum wird durch Ritalin beeinträchtigt.
James Swanson, der seit Jahrzehnten in ADS-Forschung investierte amerikanische Professor für Pädiatrie an der Universität von Kalifornien, wird in dem Artikel mit den Worten zitiert: „Wenn wir ehrlich sind, müssen wir den Kindern sagen: ‚Wenn Du an der nächsten Woche oder dem nächsten Monat interessiert bist, oder sogar am Zurechtkommen im nächsten Jahr, dann ist dies [Ritalin] die richtige Behandlung für Dich. Aber auf lange Sicht wird es dazu führen, dass Du nicht so groß wirst wie die anderen.‘ Wie viele Kinder würden einer solchen medikamentösen Behandlung zustimmen? Wahrscheinlich keines.“ - Die Berücksichtigung der Erfahrungen von jungen Erwachsenen mit ADS schärft das Bewusstsein für ein interaktionelles Verständnis von ADS als einem neuen, gültigeren Paradigma.
Erwachsene mit ADS-Behandlung in der Vorgeschichte stellen eine zunehmend wichtigere Quelle der Erktenntis für das „Wesen“ der Störung dar. Hier zeigt eine explorative Studie aus den USA, dass diese jungen Menschen nicht nur gewissermaßen „strategisch“ auf die medikamentöse Unterstützung zurückgriffen, sondern vor allem, dass sie in ihren Lebensumwelten Kontexte (Nischen) für sich entdeckten, in denen sie gewissermaßen „frei“ von ADS waren. Daraus leitet sich als Erkenntnis ab, dass es mehr darauf ankommen mag, den für sich selbst passenden Arbeits- und Belastungskontext zu finden.
Diese Kontexte, in denen die ADS quasi nicht existierte oder keine Rolle spielte, ließen sich nicht über einen Kamm scheren, aber sie schienen eines gemeinsam zu haben: es musste eine von innen ansprechende Aufgabe/Tätigkeit sein. - Es spricht viel dafür, dass ADS-Patienten unterschiedlichen Gruppen (Subtypen) zuzurechnen sind.
Das kategoriale (entweder/oder) Verständnis von ADS entspricht, wie erwähnt, nicht den Fakten. Und diese wiederum legen darüber hinaus nahe, dass manche Kinder mit ADS eine viel ungünstigere Langzeitprognose haben als andere, dass gewissermaßen ADS nicht gleich ADS ist. Insbesondere, wenn schon früh im Verlauf heftiger Ärger die „Begleitmusik“ der ADS-Symptomatik auszeichnet, scheinen gravierende psychosoziale Schwierigkeiten im Jugend- und jungen Erwachsenenalter vorgezeichnet, etwa dissoziales Verhalten oder eine Suchtproblematik.
Der Beitrag endet aus gutem Grund mit der Frage, ob durch die Infragestellung bzw. das Scheitern des medizinischen Erklärungsmodells die Eltern nicht in neue Not geraten würden. Immerhin hatte das medizinische Modell sie von Schuld entlastet (nicht in der Erziehung „versagt“ zu haben, weil das Kind ja in Wahrheit „krank“ sei). Die durch die neuen Erkenntnisse beförderte Verunsicherung werde aber durch gute Optionen, die diese neuen Erkenntnisse enthielten, gewissermaßen ausgeglichen: „Zugegeben, dieses neue Verständnis von ADHS hat gewisse Nachteile. Es verweigert den Eltern die klare, endgültige Erklärung für die Probleme ihrer Kinder, die vor allem nach Monaten oder Jahren der Frustration und Ungewissheit eine große Erleichterung darstellen kann. Sie erfordert oft viel Flexibilität und Experimentierfreude von Patienten, Familien und Ärzten. Aber es hat auch zwei wichtige Vorteile: Erstens spiegelt das neue Modell die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über ADHS genauer wider, und zweitens gibt es den Kindern eine Vision ihrer Zukunft, in der sich die Dinge tatsächlich verbessern könnten – nicht, weil ihre Gehirne chemisch so umgestaltet werden, dass sie sich besser in die Welt einfügen, sondern weil sie einen Weg finden, die Welt besser an ihr kompliziertes und besonderes Gehirn anzupassen„.
Damit wird ADS/ADHS als ein besonderes, vermutlich auch dauerhaft relevantes Merkmal anerkannt („besonderes Gehirn“). Aber was das im Lebenskontext bedeutet bzw. ausmacht, wird nicht nur durch diese Eigenschaft festgelegt. Vielmehr ergibt sich dies erst aus dem Zusammenwirken (Interaktion) mit weiteren Faktoren bis sogar dahin, dass ADS/ADHS (fast) gar nicht mehr existent erscheint.