Der Politikwissenschaftler Ingolfur Blühdorn hat nach den bereits unbequemen Gesellschaftsanalysen „Simulative Demokratie“ und „Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit“ im letzten Jahr ein weiteres Buch vorgelegt, das auf diese Vorarbeiten aufgreift und in einer düster anmutenden Diagnose zusammenführt mit dem Titel:
Unhaltbarkeit: Auf dem Weg in eine andere Moderne.
edition suhrkamp 2808, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2024
Broschiert, 384 Seiten,
ISBN 978-3-518-12808-4
20,- €
Dazu habe ich gestern im Kulturkompass MV eine kleine Rezension veröffentlicht, die nachfolgend in unwesentlich geänderter Fassung hier wiedergegeben ist. Es schließen sich an diese Rezension aber noch pointierte Zitate aus dem Buch an, und am Ende dieses Beitrags gebe ich noch eigene Anmerkungen und Bewertungen zum Buch.
Unhaltbarkeit: Auf dem Weg in eine andere Moderne
Im April 2024 erschien das Buch „Unhaltbarkeit“ des in Wien lehrenden Politikwissenschaftlers Ingolfur Blühdorn. Es hat im gleichen Jahr bereits eine weitere Auflage erfahren, was für eine rasante Aufnahme spricht. Tatsächlich hatte es in einer soziologischen Fachrezension zu diesem Buch sofort nach dessen Erscheinen geheißen, es werde (oder sollte) „einschlagen wie eine Bombe“, denn es räume mit allerlei wohlgehegten Gewissheiten und Überzeugungen auf, und treibe die Leser „aus der Komfortzone“.
Zumal in der ganz aktuellen Krise der geopolitischen Ordnung, mit dem Zerbrechen des transatlantischen Bündnisses, kann man die Aktualität der Überlegungen und Argumente von Blühdorn kaum übersehen.
Aber der Reihe nach. Titel und Untertitel des Buchs sind für seinen Inhalt Programm: Es geht um nicht mehr (Ein-) Haltbares – und damit ist man zugleich auf dem Weg „in eine andere Moderne“ (und nicht etwa, wie man zunächst denken könnte, in eine rückwärtige Welt). Vordergründig geht es um das Zerplatzen von Hoffnungen auf eine ökologisch-emanzipatorische Transformation der Gesellschaft, mit der am Ende noch eine Lebensweise gefunden werden sollte, die nicht mit verheerenden regionalen und auch globalen Kollateralschäden durch kapitalistische Industrieproduktion und Wirtschaft verbunden ist. Eine Lebensweise auch, die eine Begrenzung des Ressourcenverbrauchs so erreicht, dass alle Menschen auf diesem Planeten ein auskömmliches Leben haben. Dies erweise sich zusehends als unhaltbar. Und zwar nicht als objektiv unhaltbar, sondern weil dieselben Gesellschaften, die (in ihren links-alternativen Kreisen) eben diese Hoffnung der Transformation gehegt hatten, inzwischen längst andere als universelle Werte, wie Gerechtigkeit, viel wichtiger nähmen, etwa den eigenen Wohlstand – auch wenn dieser als „imperiale Lebensweise“ auf Kosten anderer ausgelebt werde.
Die „spätmodernen“ Gesellschaften hätten, so Blühdorn, statt der sozialökologischen Emanzipation, die Subjektzentrierung vorangetrieben, ohne dass es je ein dazu komplementäres, überzeugendes und verbindliches Narrativ der Selbstbegrenzung gegeben habe. Kurz gesagt, hat sich anstelle des ursprünglichen Aufbruchs in eine alternative, gerechtere Welt (dadurch!) ein Prozess entfaltet oder beschleunigt, der in eine ganz andere Moderne führt. Diese sei, so Blühdorn, im krassen Gegensatz zu den ursprünglichen Wertvorstellungen und Normen, vor allem am Einzelnen ausgerichtet, seinen Ansprüchen auf Freiheit, Selbstverwirklichung usw.
Begrenzungen individueller Handlungsmöglichkeiten, die sich aus einem Anspruch des Gemeinwesens (oder auch den legitimen Ansprüchen von fern lebenden Anderen) ergäben, würden demgegenüber als unerträgliche Beschneidung der eigenen Freiheit und Autonomie erlebt und abgelehnt. Dies habe nicht zuletzt die (Politisierung der) Corona-Pandemie deutlich zu erkennen gegeben und es erschwere die unerlässliche Kompromissbildung und den Konsens in demokratischen Gesellschaften.
Zudem habe sich mittlerweile der Gehalt dessen, was Emanzipation und Autonomie meine, zunehmend verwandelt. Anders als man es zu Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs in den 1970er Jahren erwartet und erhofft hatte, sei diese in der Spätmoderne keineswegs mehr explizit politisch zu deuten (der Bürger als wirklicher Souverän und Gestalter des gesellschaftlichen Wandels). Vielmehr werde der Mensch in den spätmodernen, hyperkomplexen Gesellschaften, die zudem vor schier unlösbaren Herausforderungen und Problemen stünden, komplett überfordert. Blühdorn diagnostiziert hier eine neue und andere „Emanzipation“, nämlich „Befreiung von Mündigkeit“! Dies mag einem wie ein Widerspruch in sich erscheinen, aber auch dies, die Gültigkeit von Rationalität und Widerspruchsfreiheit, sei gebunden an soziale Normen, die nicht in Stein gemeißelt seien und sich derzeit im Übergang in eine „andere Moderne“ befänden. Mit der eben erwähnten Überforderung des Bürgers in der Spätmoderne greift Blühdorn die allenthalben sichtbare Krise der Demokratie auf, die in der sich abzeichnenden „anderen“ Moderne mutmaßlich überwunden werde durch Transformation in eine autoritär-autokratische Gesellschaft.
Das alles liest sich hier zugegeben krass und wohl auch unverständlich, was dem Rezensenten anzulasten ist sowie dem Umstand, dass über dreihundert Seiten soziologische Theorie nicht ohne Blessuren in einen knappen Absatz komprimiert werden können.
Das Besondere dieses Buchs ist, dass Blühdorn die Dynamik der sich abzeichnenden anderen Moderne, die nach seinen Erwartungen eine autoritäre Gesellschaft mutmaßlich asiatischer Prägung sein wird, gewissermaßen als unerwünschte Nebenwirkung derselben Kräfte und Einflüsse herleitet, die ursprünglich zur Befreiung der kapitalistischen Industriegesellschaft aus ihren selbstzerstörerischen Zwängen gedacht/erhofft waren. Dabei betont der Autor an etlichen Stellen im Buch, dass er sich als Beschreibender gesellschaftlicher Veränderungen betrachtet und weit davon entfernt ist, diese sich abzeichnenden Tendenzen legitimieren oder gar gutheißen zu wollen. Aber Soziologie sei (im Unterschied zur Religion) nicht dazu da, Hoffnung zu stiften, sondern Gesellschaften zu beschreiben wie sie sind und nicht, wie wir sie uns wünschen. Blühdorn sieht nicht nur das „öko-emanzipatorische Projekt“ als überholt an, sondern meint, dass wir gerade das Ende der „westlichen Moderne“ erleben würden. Dieses Ende stehe bevor – nicht aber das „Ende der Menschheit“. Das hält er vielmehr für ein „Mobilisierungsnarrativ“ jener Menschen sei, die noch an die Einlösung der bisherigen Werte glaubten (und dabei nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dass die spätmodernen Gesellschaften in Wahrheit längst andere Wege eingeschlagen hätten, die Blühdorn in einem vorherigen Buch bereits als nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit charakterisiert hatte). Diese harte Beschreibung dessen, was er als Gegenwart bzw. aufziehende Zukunft bezeichnet, dürfte ihm auch „Beifall von der falschen Seite“ einbringen, wie es auch in der erwähnten Fachrezension als wahrscheinlich angesprochen wird. Blühdorn wird sich dessen bewusst sein, aber in derselben Weise wie eben angedeutet reagieren: Die soziologische Analyse hat sich auf das zu beziehen, was ist, nicht im Duktus dessen zu schreiben, was wir uns wünschen.
Die eingangs erwähnte Aktualität des Buchs liegt für mich darin, dass mit der Verwandlung der USA in einen Gegenspieler der EU sich bereits eine Transformation von Demokratie in autoritär-autokratische Gesellschaft vor unseren Augen abspielt. Die Fixierung auf die USA lässt uns Europäer aber noch in dem Glauben wiegen, auf der „richtigen Seite“ zu stehen, während in Wahrheit dieselben Prozesse der Entdemokratisierung der Demokratie auch in der EU längst weit fortgeschritten sind (siehe dazu auch Saxer, der in einem frei zugänglichen Artikel die jüngsten Ereignisse auf der Münchner Sicherheitskonferenz ganz im Sinne von Blühdorn als Ende der liberalen Weltordnung und Aufbruch in eine autoritär-autokratische Moderne skizziert).
Das Buch von Blühdorn ist starker Tobak, leider sehr theorielastig. Für alle jene ist es aber eine wichtige, intellektuell herausfordernde Lektüre, die etwa auch aktuelle Bücher zur Verfassung der Spätmoderne (Reckwitz oder Rosa) mit Interesse lesen. Ein „Muss“ ist dieses Buch für jene, die die Bücher des Soziologen Ulrich Beck schätzen. Denn dessen Denkweise begegnet einem in diesem Buch auf fast jeder Seite – wenn auch in der inhaltlich Ausrichtung ganz anders, als es Beck im Sinn hatte (und es sich wohl auch Ingolfur Blühdorn gewünscht hätte).
Ausgewählte Zitate aus „Unhaltbarkeit“
„Was zuletzt, zumindest auf deklaratorischer Ebene, noch als kategorischer Imperativ bezeichnet wurde – Klimaschutz, Menschenrechte, Demokratie, Artenreichtum, planetare Grenzen, ein gutes Leben für alle –, wird nun offen in Frage gestellt, weil es vorherrschende Freiheitsverständnisse bedroht, den erreichten Wohlstand gefährdet und im internationalen Wettbewerb handfeste Nachteile bringt, während die versprochenen Vorteile bestenfalls langfristig sind, eher fernen Ländern und fremden Menschen zugutekommen und ohnehin keineswegs sicher sind. Das genau ist, was der Titel dieses Buches – Unhaltbarkeit – einfangen will: die Gleichzeitigkeit der tiefen Krise westlicher Gesellschaften und der Krise des ökoemanzipatorischen Projekts, das diese Gesellschaften transformieren wollte.“ (S. 17)
„Eine »Zeitenwende« im oben angedeuteten Sinne lässt sich bereits beobachten. Aber entgegen aller ökoemanzipatorischen Hoffnungen und Erwartungen ist das, was da gerade zerfällt, nicht die zerstörerische Ordnung des Wachstums, der Verschwendung, der Ausbeutung und der Ungleichheit, sondern eben die ökoemanzipatorische Rahmung klima- und nachhaltigkeitspolitischer Themen. Und die neue Gesellschaft, die neue Welt, die sich da herausbildet, ist weit entfernt von dem, was die Bewegungen sich vorgestellt hatten.“ (S. 26)
„Während in kolonialer Manier weiterhin qualifizierte Fachkräfte aus weniger entwickelten Ländern angeworben werden, ist die Bereitschaft, Armuts- und Klimaflüchtlinge aufzunehmen, ebenso gering wie die, in ihren Herkunftsländern Bedingungen zu schaffen, die den Menschen ein gutes Leben in ihrer eigenen Heimat erlauben.“ (S. 70)
„In der dritten Moderne wird das Projekt der vernunftgeleiteten, kollektiven Kontrolle und Gestaltbarkeit zugunsten eines guten Lebens für alle in ökologischen Grenzen und des ewigen Friedens in der kosmopolitischen Gesellschaft vollständig zur Fiktion. Stattdessen wird die Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit mit allen Mitteln – gerade auch der Ab- und Ausgrenzung – verteidigt. Das kantische Projekt des kollektiven Auszugs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und der Glaube an die vernunftbestimmte Welt freier Subjekte erscheint als illusionär, als untragbare Belastung und – mit ihren ökologischen Imperativen, demokratischen Zumutungen und sozialen Verpflichtungen – als inakzeptable Beschränkung aktualisierter Vorstellungen von Freiheit und Selbstverwirklichung. Ebenso wie zuvor die Metamorphose von der linearen zur reflexiven Moderne entfaltet sich auch die von der zweiten zur dritten Moderne im Selbstlauf – als nichtintendierte Nebenwirkung der reflexiven Modernisierung.“ (S.247)
„Der Blick auf diese inneren Spannungen erhellt, warum der emanzipatorische Wertewandel und die emanzipatorischen Bewegungen seit den siebziger Jahren nicht einen kontinuierlichen Fortschritt in Richtung auf ein selbstbestimmtes, gutes Leben für alle innerhalb ökologischer Grenzen bewirken konnten, sondern die Logik der Befreiung, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung in der Spätmoderne letztlich ins Illiberale, Autoritäre und Exklusive umkippt. Diese Spannung ist der Motor für einen fortgesetzten politischen Kampf zwischen konkurrierenden Auslegungen von Autonomie und Subjektivität.“ (S. 282).
„Zu diesen Bewältigungsstrategien gehört zuallererst die bereits in Kapitel 1 angesprochene Ablenkungs- und Zerstreuungsindustrie. In der Spätmoderne helfen gerade das Smartphone und die sozialen Medien, dass sich Gelegenheiten zur Reflexion auf die Unhaltbarkeit(en) gar nicht erst einstellen. Wichtig ist zweitens die ebenfalls bereits besprochene komplexitätsreduzierende Abkehr vom Öffentlichen und Politischen und der neobiedermeierliche Rückzug ins Familiäre und Private.“ (S. 346)
„Mit der Konjunktur des Resilienzdiskurses findet gegenüber dem ÖEP [öko-emanzipatorischen Projekt] somit eine deutliche Verschiebung statt. Es geht nicht mehr darum, neue emanzipatorische Räume für die progressive Verwirklichung von Gleichheit und Selbstbestimmung zu erschließen, sondern darum, die Abfederungs- und Absorptionskapazität zu erhöhen.“ (S. 353)
„Hatte die Umweltbewegung der achtziger Jahre noch einen Betroffenheitskult betrieben, geht es in der Spätmoderne also darum, sich vom Unabänderlichen möglichst nicht berühren zu lassen.“ (S.354)
Kritische Anmerkungen und Fragen
Das Buch verfolgt durchgängig zwei parallele Stränge, nämlich einmal und vornehmlich eine soziologische Zeitdiagnose und Erklärung für offenkundige aktuelle Probleme anzubieten, namentlich die Unfähigkeit der kapitalistischen Konsumgesellschaften betreffend, auf die Alarmglocken der Klimakrise zu reagieren, sowie die offenkundige Krise der Demokratie. Zugleich geht Blühdorn ausgiebig und kritisch mit der sogenannten „kritischen Soziologie“ und Umweltsoziologie ins Gericht. Das ist gewissermaßen der fachwissenschaftliche Strang des Buchs. Für „normale“ Leser ist diese Doppelperspektive eher hinderlich bzw. es macht die Lektüre komplizierter und unattraktiver als sie wäre, wenn das Buch sich primär auf die Zeitdiagnose beschränkt hätte.
Was mir eher unangenehm auffiel, waren inhaltliche Übertreibungen durch wenig nachvollziehbare Zuschreibungen, die nach meinem Dafürhalten viel mit der genannten doppelten Perspektive (Gesellschaftsdiagnose versus fachinterne Kritik) zu tun haben, wie es im folgenden Zitat beispielhaft anklingt: „Während die zweite Moderne, die NSB [Neuen Sozialen Bewegungen] und das ÖEP [Öko-emanzipatorische Projekt] sich um die Ökologisierung der Gesellschaft, das Ideal des freien und selbstbestimmten Subjekts und die Demokratisierung der Demokratie bemühten, hat sich in modernen Gesellschaften – ungeachtet vielfältiger ökologischer, emanzipatorischer und demokratiepolitischer Erfolge – also etwas vollständig anderes durchgesetzt; und die Vorkämpfer des ÖEP haben dazu, ohne dass sie dies gewollt oder bemerkt hätten, selbst einen erheblichen Beitrag geleistet. Sie haben für den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft gekämpft und haben dabei daran mitgewirkt, dass sich die Gesellschaft der Nicht-Nachhaltigkeit verfestigt hat. Sie haben sich für Freiheit und Selbstbestimmung eingesetzt, haben damit aber nicht die mündige und inklusive Bürgergesellschaft verwirklicht, sondern die illiberale und exklusive Gesellschaft der Singularisierung mit befördert. Sie haben für die wahre Demokratie gestritten, dabei aber nicht das Ideal der kollektiven Selbstregierung verwirklicht, sondern die autokratisch-autoritäre Wende begünstigt.“ (S. 253; Hv. G.U.)
Die von Blühdorn nicht namentlich genannten „Vorkämpfer des ÖEP“ werden sich an dieser Stelle wohl verwundert die Augen reiben, wie unerhört wirkmächtig ihre Schriften und Handlungen gewesen sein sollen, dass sie angeblich solche Transformationen geleistet haben, so dass sie am Ende von Blühdorn der „Komplizenschaft“ beschuldigt werden (S. 254). Wenn man bedenkt, welche – mit Verlaub – randständige Position die akademische Soziologie in der Gesellschaft tatsächlich hat, so erscheint diese Zuschreibung von Blühdorn wenig glaubwürdig. Naheliegender (und vermutlich soziologischer!) wäre es wohl anzunehmen, dass dieselben Veränderungen der kapitalistischen Gesellschaft (nämlich vom Übergang des Industriekapitalismus zur kapitalistischen Konsumgesellschaft) sowohl die Resonanz für entsprechende emanzipatorische Impulse und Ideen begünstigt haben als auch dafür gesorgt haben, dass anstelle einer politischen Emanzipation eine (unpolitische) konsumistische Individualisierung stattgefunden hat. Wenn man etwa die sozialpsychologische Analyse von Twenge zur „Generation Me“ daraufhin besichtigt, wird man (zumindest in den dort untersuchten USA) feststellen, dass diese Entwicklung eines durch und durch auf sich selbst zentrierten Subjekts und dessen forscher Anspuch auf Selbstaktualisierung sich primär durch Marketing/Werbung sowie durch Popkultur verwirklicht bzw. gebahnt hat.
Zwar räumt Blühdorn an verschiedenen Stellen im Buch ein, dass auch andere Treiber für die von ihm diagnostizierten Prozesse ausschlaggebend seien, aber dieser Strang bleibt dann doch recht schwach belichtet, wird gewissermaßen nur benannt, aber nicht ausgeführt. So überwiegt am Ende der Eindruck, er sehe das „ökoemanzipative Projekt“ und die (damals) Neuen sozialen Bewegungen als eigentliche Treiber und „Totengräber“ (S. 255). In dieser Übertreibung klingt für mich eher eine Enttäuschung an über das Versagen dieser emanzipatorischen Bewegungen und Werte an, mit denen nun im Gegenzug besonders hart abgerechnet wird.
Schließlich bleibt für mich mit dem Buch von Blühdorn etwas unklar, was genau aus seiner Analyse eigentlich folgt. Zwar macht er auf überzeugende Weise deutlich, wie die Relativierung aller Normen in der Spätmoderne einen „Abgrund“ aufreißt, der eben nicht, wie es Beck in seinen Analysen gehofft hatte, durch das Unbedingte der in immer größeren Dimensionen sich manifestierenden Kollateralschäden kapitalistischen Wirtschaftens überbrückt wird. Es wirkt auch plausibel, aus diesem Verlust an verbindlichem Normenbezug die in spätmodernen Gesellschaften sich äußernde Tendenz zur Polarisierung herzuleiten. Aber wie diese Diagnose für die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse folgenreich sein kann, erschließt sich mir nicht. Blühdorns eigene Aussage dazu verbleibt denn auch im Vagen: „In der Spätmoderne zerbrechen diese Weltsicht und Selbstverständnisse, und die Ernüchterung führt, zumindest in Teilen der Gesellschaft, zu einer Intensivierung der Kampagne und entsprechend zu einer Intensivierung der Widerstände. Es eröffnet sich eine Perspektive der zunehmenden Polarisierung, des Konflikts und der Gewalt. Der Mehrwert der hier unternommenen Analyse liegt vor diesem Hintergrund vielleicht nicht zuletzt darin, dass sie die spätmoderne Traumatisierung sichtbar macht und in ihren Ursachen erklärt. Sie könnte zu einem Verständnis und damit zur Entschärfung spätmoderner Konflikte und Polarisierungen beitragen“ (S. 345).
Schreibe einen Kommentar