Heute will ich auf einen frei zugänglichen Text eines in Österreich lehrenden Politikwissenschaftlers, Ingolfur Blühdorn, aufmerksam machen, den er 2022 im Bielefelder transcript Verlag veröffentlicht hat: „Unsere Freiheit, unser Wohlstand: Zur Krise des öko-emanzipatorischen Projekts“. Dessen Hauptaussage versuche ich, auch unter Bezugnahme auf einen weiteren Text desselben Autors, nachfolgend in aller Kürze vorzustellen.
In dem eingangs erwähnten Text „Unsere Freiheit, unser Wohlstand“ spricht Blühdorn in ernüchternder Klarheit der deutschen Wohlstandsgesellschaft die Fähigkeit ab, das Ausmaß der Weltbedrohung (an-) zu erkennen und angemessene, und das heißt dann unweigerlich: radikale, Konsequenzen daraus zu ziehen. Stattdessen würde – in einer quasi libertären Lesart von Emanzipation – der Anspruch fahren gelassen, dass Freiheit und Wohlstand etwas seien, auf das alle Menschen (als Gleiche) einen Anspruch hätten. Vielmehr würde der eigene Wohlstand so verteidigt, als ginge es um die eigene Freiheit, auch wenn das mit einem Verlust an Freiheit anderer Menschen einhergehe, jedenfalls auf deren Kosten stattfinde.
Ähnlich wie ich in einem früheren Blogbeitrag bezieht auch Blühdorn sich auf die Corona-Pandemie, die für ihn gerade nicht gezeigt habe, was die Welt, wenn sie denn wollte, zu leisten vermöchte. Vielmehr sei die Pandemie nur eine Zäsur im öffentlichen Diskurs geworden. Damals (und seitdem) habe die öffentliche Auseinandersetzung eine schwer zu handhabende „Unversöhnlichkeit“ angenommen. Der Ton sei rauer geworden, dadurch Kompromisse umso schwerer herstellbar, schon gar nicht das Aushandeln notwendiger und starker (Wohlstands-) Abstriche. Letztere seien aber gerade unverzichtbar, um von der „imperialen Lebensweise“ loszukommen, die den Westen kennzeichne. Unter expliziter Bezugnahme auf den deutschen Soziologen Stephan Lessenich und sein Buch über die „Externalisierungsgesellschaft“ meint Blühdorn, dass die Bevölkerungen im Westen nicht etwa nur „über ihre Verhältnisse leben“ , sondern in Wahrheit auf Kosten anderer – weshalb es sich um eine „imperiale Lebensweise“ handele. Diese steht mit zentralen Grundwerten der Aufklärung (u.a. Gleichheit der Menschen, woraus auch die Menschenrechte abgeleitet sind) notwendig im Widerstreit.
Die eben erwähnte, neue Unversöhnlichkeit im öffentlichen Diskurs sieht Blühdorn eng verbunden mit einer bedeutenden, und aus sozial-ökologischer Sicht verhängnisvollen Neuausrichtung dessen, was man unter Autonomie, Individualität und Emanzipation zu verstehen habe. Diese zentralen Begriffe standen bisher (und in der Tradition der Aufklärung) für ein Verständnis von Freiheit, bei dem das Subjekt sich aus (politischen) Freiheitseinschränkungen befreit, gewissermaßen einer obrigkeitlichen Willkür und Bevormundung (sei dies eine kirchliche oder weltliche Obrigkeit). Und über diese Befreiung (Emanzipation) werde sich das Subjekt seiner selbst bewusst und trachte nach Selbst-Verwirklichung. Inzwischen aber habe es – wie Blühdorn im zweiten Text schreibt: in der Form einer „stillen Revolution“ – eine erstaunliche Neuausrichtung und eine neue Lesart dieser zentralen Begriffe der Aufklärung insofern gegeben, als „Emanzipation“ sich nun auch gegen Ansprüche anderer Individuen (Gleiche) richtet, als da zum Beispiel wären: während der Pandemie eine Maske zu tragen, oder den eigenen Lebensstil zu verändern bzw. auf diverse Luxusbestandteile des eigenen Lebensstils zu verzichten, weil die mit einem guten Leben für alle nicht kompatibel sind (wenn unter anderem der CO2-Fußabdruck zu groß ist, um auf dieser Welt für alle zu passen).
Blühdorn macht in seinem Text deutlich, dass längst die libertäre Lesart von Emanzipation die Oberhand gewonnen habe, in der man sich „emanzipiert“ von sozial-ökologischen Zumutungen. Stattdessen werde das Pochen auf das eigene Lebensmodell (unbesehen etwaiger Implikationen für andere oder gar die Natur) zum Selbstzweck bzw. zum Inbegriff der Freiheit. Dazu passt, dass in den Hochzeiten der Fridays for Future-Bewegung dagegen ein Widerstand als Fridays for Hubraum sich artikuliert habe.
Der Westen reagiert nicht auf die wahre Dimension der Krise
Blühdorn sieht in den wohlstandsgesättigten Gesellschaften des Westens, die er kapitalistische Konsumgesellschaften nennt, derzeit kein Potential mehr für eine politische Lösung, die auch nur von Ferne noch etwas mit dem ehernen Ziel zu tun hat, auf der Welt Verhältnisse anzustreben, die gut (und fair) für alle sind – wovon ein empathischer Begriff von Emanzipation notwendig ausgegangen ist bzw. auf den hin sich die von ihm angeleiteten Politiken bewegten (oder mindestens so verkauft wurden).
So werde die „Logik und Dynamik des Wachstums“, obgleich offenkundig wesentlicher Bestandteil des Problems, nirgends ernsthaft in Frage gestellt; zudem seien – vereinfacht gesprochen – die Menschen in den Wohlstands- und Konsumgesellschaften derartig tief verstrickt in Konsumgewohnheit und so selbstverständlich in der Erwartung, dass ihr Leben (durch Fortschritt!) allenfalls noch besser, aber nicht schlechter werde, dass „jede Form von Reduktion zur extremen Belastung“ werde, und dementsprechend als unakzeptabel gelte. Nichts habe dies deutlicher gemacht als die zurückliegende Pandemie! „Gerade im Zuge des Neoliberalismus haben sich Verständnisse von Freiheit und Selbstverwirklichung verbreitet und verfestigt, die jede politische Regulierung als inakzeptable Einmischung in die Sphäre des Privaten betrachten“.
Die jahrzehntelange Herrschaft des Neoliberalismus habe inzwischen die Wohlstandsunterschiede auch derartig ausufern lassen, dass die Einführung von auch nur halbwegs „ehrlichen Preisen“, bei denen also die auf Andere abgewälzten Kosten nun berücksichtigt werden, tatsächlich „für wesentliche Teile der Gesellschaft nicht mehr bezahlbar wäre“, so dass sogar „für Besserverdienende (…) sozial-ökologische Preise einen erheblichen Einbruch ihrer gewohnten Lebensstandards bedeuten (würden)“.
Schlussendlich seien die Konsumgesellschaften des Westens zumeist auch operativ gar nicht in der Lage, sozial-ökologische Transformationen in der Größenordnung durchzusetzen, wie sie in der Sache erforderlich wären. Er spricht hier von einem „strukturellen Missverhältnis zwischen der Idee einer sozial-ökologischen Transformation und den Möglichkeiten der praktischen Umsetzung“. Gemeint ist hier unter anderem, dass gerade demokratische Gesellschaften unweigerlich eine Gegenwartsfixierung entwickeln, die es schwer macht, langfristig sich abzeichnende Probleme anzugehen.
Mit der Unfähigkeit des Westens, eine problemangemessene Antwort zu generieren, sei aber keineswegs schon der Kapitalismus an sein Limit gekommen, wie viele Kritiker des Systems meinten (und wohl auch hofften). Vielmehr, so Blühdorn, sei das kognitive Projekt der Emanzipation, das keine (Geltungs-) Unterschiede zwischen Menschen anerkennt, an sein Ende gekommen. Das, was den Westen in ideeller Hinsicht bislang stets geprägt habe, und das in den Begriffen der Menschenrechte und dem Anspruch, soziale Ungleichheiten aufzulösen, zum Tragen gekommen sei, erweise sich – in den Weltsystemen, in denen wir leben – als nicht einlösbar und haltbar. Daher lautet der Untertitel seines Beitrags auch „Krise des öko-emanzipatorischen Projekts“.
Nicht den Kapitalismus sieht Blühdorn also am Ende, der im Gegenteil in autoritär-autokratischen Gewändern neues (und wie man in China sieht: höchst kraftvolles) Leben eingehaucht bekommen habe. Auch sieht er nicht „die Menschheit“ am Abgrund stehen, sondern hält diese Redeweise für ein bloßes „Mobilisierungsnarrativ“ jener Menschen, die die Welt zum Besseren ändern wollten (was eine erstaunliche Einschätzung ist und vermutlich die Dimension der Fehlentwicklung verkennt, in der wir uns global befinden). Am Abgrund stehe daher „nur“ ein nicht mehr haltbares, weil nicht eingelöstes und anscheinend nicht einlösbares emanzipatorisches Projekt, das ein gutes Leben für alle zum Ziel hatte.
Am Ende der Analyse von Blühdorn heißt es etwas unvermittelt und ohne einen Ausblick auf mögliche (Handlungs-) Konsequenzen: „Der Untergang der Menschheit ist bei alledem nicht in Sicht. Doch die Auszehrung des öko-emanzipatorischen Projekts und der Aufstieg des digital-autoritären China deuten auf die Metamorphose der westlichen Moderne zu einer grundsätzlich neuen Erscheinungsform“.
Woraus folgt?
Wie eben angedeutet, bleiben die praktischen und politischen Schlussfolgerungen aus alledem zumindest in dem in Rede stehenden Text (mir) weitgehend unklar. Mag sein, dass in dem 2024 erschienenen Buch des Autors dazu Antworten geliefert werden, auch wenn dessen bisherige Rezeption nicht sonderlich dafür spricht. Mit der bereits anvisierten eigenen Lektüre dieses Buchs werde ich das sicher bald wissen – und ich werde es hier ggf. berichten oder nachtragen.
Schon aus dem Gelesenen wird allerdings eines deutlich: die pessimistische und in meinen Augen leider zutreffende Diagnose Blühdorns nämlich, dass sich die westlichen Wohlstandsgesellschaften handlungsschwach gegenüber den zunehmend apokalyptisch anmutenden globalen Szenarien ausnehmen, läuft auf eine Apartheit 2.0 hinaus (bzw. auf einen „Faschismus des Herzens“, wie Volker Heins und Frank Wolff sagen würden). Jedenfalls dann, wenn man die eklatanten Ungerechtigkeiten und die eigene „imperiale Lebensweise“ auch noch meint, rechtfertigen zu wollen. Dass Letzteres erfolgt, würde man in der Sozialpsychologie aber schon aus Gründen der Reduktion kognitiver Dissonanz erwarten, und könnte ein Schwungrad sein, über das die libertäre Erzählung in breiteren Kreisen Resonanz findet.
Es braucht mit anderen Worten eine besondere kognitive Anstrengung, um der Versuchung einer Verschleierung und Verharmlosung des Lebens-auf-Kosten-der-anderen zu widerstehen. Und wenn man das tut, haben die, auf deren Kosten man unweigerlich als Teil der imperialen Welt lebt, davon noch kein bisschen mehr.
Man kann an dieser Stelle vielleicht eine Verbindung ziehen zu Hannah Arendt, der berühmten Analytikerin totalitärer Gesellschaften, die in einem ihrer vielen Aufsätze über die Möglichkeiten des Widerstandes und die Verantwortung des Einzelnen schrieb. Mit Blick auf die Zeiten des Nationalsozialismus sei schon recht kurze Zeit nach der Machtergreifung ein signifikanter Widerstand gegen das System des Unrechts aus dem Inneren nicht mehr möglich gewesen, so wie auch wir heute nicht per privater Willens- und Konsumentscheidung einer „imperialen Lebensweise“ entkommen können. Aber Arendt sah einen für den Einzelnen damals dennoch gültigen und wichtigen Spalt des „Widerstands“ in dem Anstand, dass man sich selbst am Morgen noch in den Spiegel schauen kann. Was ja heißt, dass man das Unrecht, das einen umgibt und in das man qua System/Lebenswelt eingewoben ist, nicht auch noch gutheißt, woraus sich auch „ziviler Ungehorsam“ speist.
Die Analogien zwischen dem politischen Unrechtssystem von damals und dem wirtschaftlichen Unrechtssystem von heute sind zugegeben nur sehr ungefähr gerechtfertigt und passend. Im Unterschied zu einem totalitären System, das jeden praktischen Widerstand sofort verfolgt und ihn dadurch lebensgefährlich macht, sind die Möglichkeit des praktischen Widerstehens im heutigen System des Unrechts ungleich größer. Etwa mit Blick auf das Ausmaß, mit dem man über seine Konsumentscheidungen teilnimmt am „imperialen Leben“. Diese Optionen sollte man, zusätzlich zu den erwähnten kognitiven Anstrengungen, zweifellos nutzen. (Aber sich nicht einbilden, man sei schon damit dem Unheil entkommen).
(In der ursprünglichen Version hatte ich an der Stelle von Apartheit 2.0 noch von Wohlstands-Faschismus gesprochen, finde aber die Bezugnahme auf Apartheit treffender. Als Apartheit 2.0 scheint mir die vor uns liegende Zukunft insofern auch passend gekennzeichnet, als sie es durch die von Lessenich zu Recht in den Fokus gerückte „Externalisierung“ erlaubt, subjektiv gar nicht als solche empfunden zu werden, was im südafrikanischen Original sicher nicht der Fall war, wo der Umstand der Ausschließung und Unterdrückung allgegenwärtig und im Alltag sichtbar war).
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