[Dieser Beitrag erschien in etwas gekürzter Form, vor allem ohne die illustrierenden Zitate am Ende, zeitgleich auf dem Kulturkompass MV]


Im September letzten Jahres ist im Campus Verlag ein Buch der amerikanischen Soziologin Brooke Harrington erschienen. Es befasst sich mit Steuerparadiesen oder Steueroasen. Sein Untertitel lautet: „Wie Vermögensverwalter Reichtum tarnen und einen neuen Kolonialismus schaffen“. Dieser Untertitel ist, wie sich bei der Lektüre Schritt für Schritt herausstellen wird, sehr treffend gewählt.

Die Autorin macht deutlich, dass bei Steueroasen zumeist nur an die zwielichtigen Personen gedacht werde, die dort ihr Vermögen verstecken und Steuerzahlungen umgehen. Unbeachtet bleibe zumeist, dass solche Leute, in aller Regel Reiche und extrem Reiche, ohne die findigen Helfer aufgeschmissen wären, nämlich die Verwalter ihrer Vermögen. Grund genug, diese einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Auch, dass es bei Steuerparadiesen um Geheimnisse geht, also etwas zu verbergen ist, lernt man. Und Harrington klärt auch auf, dass das Verstecken und Verbergen sogar zum Kerngeschäft dieser Paradiese zählt. Dass das Ganze mit einer neuen Form von Kolonialismus zu tun hat, mag einem wie ein werbewirksamer Aufmacher erscheinen. Im Buch wird man aber eines Besseren belehrt. Mehr noch, die Autorin zeigt auf, dass diese Steuerparadiese Relikte des historischen Kolonialismus sind. Der hatte viele dieser Orte schon damals dafür geschaffen, um einen Platz zu schaffen, an dem die eigentlichen Regeln (Gesetze) eines Landes außer Kraft gesetzt waren und umgangen werden konnten. Damals betraf dies zumeist den Zoll auf Waren. Heute sind es riesige Vermögen.

Wie das heute einen „neuen Kolonialismus“ schafft, wird verständlich, worum es beim Kolonialismus geht: das Verhältnis von Kolonie und der sie beherrschenden Macht war stets eines von Ausbeutung und Plünderung. Die imperialen, überwiegend europäischen Mächte der Kolonialzeit unterwarfen fremde Weltregionen, um sich deren Güter einzuverleiben und deren Arbeitskräfte auszunutzen. Der neue Kolonialismus, den uns Harrington vor Augen führt, hat auch mit Plündern und Auszehren zu tun. Jetzt sind es aber die ehemals mächtigen Nationalstaaten, die zur Ader gelassen werden – und zwar von extrem vermögenden Personen, die unter Einsatz raffinierter Vermögensverwalter dafür sorgen, dass riesige Einnahmen und Vermögen am jeweiligen Staat vorbeigeschleust werden. Sie spricht hier auch von „Kolonialismus 2.0“, denn in diesem System wiederhole sich „vieles von der Ausbeutung und Ungerechtigkeit der ursprünglichen Version mit einer postmodernen Ergänzung: Die Kolonisatoren (Vermögensverwalter, G.U.) vertreten nicht länger einzelne Nationen, sondern das internationale Kapital, und die ausgebeuteten Kolonien beinhalten in dieser Version auch die ‚freie Welt‘. Noch schlimmer ist, dass die Mehrzahl der Kolonisierten überhaupt nicht weiß, dass sie von einer Offshore-Elite ausgebeutet wird“.

Harrington merkt mit Recht an, dass beim Stichwort Steuerparadiese zumeist nur an die illegale, mindestens aber illegitime Bereicherung gedacht werde. Viel weniger beachtet werde hingegen, dass das so zur Seite geschaffte Geld anderswo fehlt, und zwar in der Regel beim betroffenen Staat. Und diese Plünderung von Staatskassen habe durchaus einen spürbaren Effekt. Der wurde etwa für die USA schon vor 20 Jahren auf 15% beziffert. Was besagen soll, dass die normalen Bürger des Landes 15% höhere Steuerlast zu tragen hätten, weil die Superreichen erfolgreich den Staat um hunderte Milliarden Dollar an Einnahmen prellten! Auf die Ausführungen von zwei Ökonomen verweisend, schreibt Harrington, dass heute „Vermögen nicht (entstehen), in dem Wert erzeugt wird, sondern indem Eliten mit einer Hand die staatliche Aufsicht sabotieren und mit der anderen die Staatskasse plündern“. Diese Eliten fühlten sich den Nationalstaaten übrigens nicht verpflichtet. Vielmehr agierten sie wie eine herrenlose, globale Horde jenseits der Gesetze. Harrington spricht hier von einem „libertären Anarchismus“.

Wenn es stimmt, dass Verschwiegenheit und Geheimhaltung das A und O der Steuerparadiese sind, dann mag man sich fragen, wie es einer Soziologin überhaupt gelingen konnte, an wertvolle Informationen zu kommen. In der Tat nicht ganz einfach: Brooke Harrington ließ sich dafür mehrjährig zur Vermögensverwalterin ausbilden, um so in den Kreis dieser Eingeweihten zu gelangen!

Wer fürchtet, dass ein Buch über Geld und Finanzen trocken und öde ist, und dass es schwer zu lesen sei, wie es gerade für soziologische Texte beinahe sprichwörtlich ist, der liegt bei diesem Buch der Soziologin Brooke Harrington völlig daneben. Das Buch ist spannend, es ist flüssig geschrieben – „nur“ sein Inhalt ist schwer verdauliche Kost, denn auf fast jeder Seite begegnet einem unersättliche Geldgier und Skrupellosigkeit.

Brooke Harrington
Offshore. Wie Vermögensverwalter Reichtum tarnen und einen neuen Kolonialismus schaffen.
Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2024
Hardcover gebunden, 26 €
208 Seiten
ISBN 9783593519128

Zum Abschluss und noch ein paar knackige Zitate aus diesem Buch:

„Das Offshore-Finanzsystem ist die Voraussetzung für einen Aufstand von Eliten, welche Gleichheit vor dem Gesetz, wirtschaftliche Stabilität, freie Märkte und soziale Solidarität ablehnen“ (S. 30).

„Die Freiheit, keine Steuern zahlen zu müssen, ist nur der Anfang. Deshalb werden die Offshore-Finanzzentren als ‚Steuerparadiese‘ bezeichnet: Für einige mit großem Reichtum gesegnete Personen werden an diesen jenseitigen Orten viele irdische Regeln außer Kraft gesetzt“ (S. 31).

„Die gemeinsame Geschichte von Kolonialismus und Offshore-Finanzen begann also mit einer selektiven Befreiung von der Pflicht, sich an das Gesetz zu halten (S. 37).

„Das wahre Ausmaß und die Auswirkungen der heutigen Vermögensungleichheit zählen zu den wichtigsten Geheimnissen, die das Offshore-Finanzsystem verbergen“ (S. 42).

„Wenn die Offshore-Finanzen tatsächlich eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellen, stellt sich die Frage, warum die Behörden diesen Aktivitäten nicht einfach ein Ende machen – wie hunderte Ökonomen, Journalisten und Politiker empfohlen haben. Das Offshore-System hat sich als bemerkenswert stabil erwiesen und bisher allen Versuchen widerstanden, die Schäden zu begrenzen, die es Volkswirtschaften, Demokratien und der Umwelt zufügt. Würde man das System vollkommen zerschlagen, so würde der Schleier der Geheimhaltung zerrissen, der die Offshore-Vermögen der Reichen und Mächtigen umgibt, und wie die Panama, Paradise und Pandora Papers gezeigt haben, sind viele dieser Personen selbst Staatschefs oder Finanzminister oder nehmen auf eine andere Art Einfluss auf die rechtlichen und Finanzsysteme. Sie stehen hier in einem Interessenkonflikt und wollen ihre Macht nicht nutzen, um ein System unter Kontrolle zu bringen oder zu zerschlagen, aus dem sie selbst großen Gewinn ziehen (S. 46).

„Für viele Angehörige der Elite bedeutet Freiheit im Grunde Freiheit von Besteuerung“ (S. 59).

„Das Offshore-Finanzsystem ist dafür gemacht, für die Außenwelt unverständlich und unkontrollierbar zu sein. So ist es zum Aufmarschgebiet für eine Konterrevolution geworden“ (S. 61).

„Die Geringschätzung für geteilte Pflichten und Rechtsstaatlichkeit verbindet die wohlhabende Klientel der Steueroasen mit Kriminellen und Terroristen. Beide Gruppen machen ganz ähnlichen Gebrauch von modernen Offshore-Systemen (S. 77).

„Politiker und Manager, die in den Offshore-Leaks auftauchen, sollten daher nicht einfach als korrupte Personen betrachtet werden, die erwischt wurden. Vielmehr betreiben sie eine Revolte von Eliten, die ein politisches Vorhaben verfolgen: Sie wollen ihre Verpflichtungen gegenüber den Gesellschaften abschütteln, die Ihnen Zugang zu Wohlstand und Macht gegeben haben (S. 78).

„Die Eliten lehnen mittlerweile jegliche Verpflichtung gegenüber den Gesellschaften ab, denen sie ihren Reichtum und ihrer Macht verdanken. Stattdessen nehmen sie radikal antidemokratische und antiegalitäre Positionen ein, ohne sich vor Sanktionen fürchten zu müssen (S. 79).

„Nun, der Grund (dafür, dass Offshore-Finanzzentren fast immer britischen Ursprungs sind; G.U.) ist, dass das gesamte Offshore-System auf der rechtlichen und finanziellen Infrastruktur des britischen Empire rut. Es ist ein Betriebssystem, das zum Vorteil einer neuen Elite umgebaut wurde: An die Stelle der Einwohner des kolonialen Mutterlandes Großbritannien sind die ‚staatenlosen Superreichen‘ getreten (S. 88).

„Für die Superreichen ist die Aufbewahrung Ihres Vermögens in Trusts, Gesellschaften und Stiftungen in den ehemaligen britischen Kolonien ebenso sicher und respektabel wie eine Anlage in Großbritannien – nur ohne die Belastung durch die britischen Steuern und Vorschriften (S. 95).