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Priv.-Doz. Dr. med. Gratiana Steinkamp
Dipl.-Psych. Dr. Gerald Ullrich

Wie viel Personal braucht eine angemessene psychoonkologische Versorgung?

asd

Es versteht sich von selbst, dass insbesondere für die Klinikleitungen die Frage wichtig ist, wie viel Mitarbeiter es jeweils braucht, um eine angemessene psychoonkologische Versorgung der eigenen Krebspatienten gewährleisten zu können. Umso merkwürdiger ist es, dass die Psychoonkologie zwar sehr früh und zumindest in Deutschland im Ergebnis recht erfolgreich dafür gesorgt hat, die Überzeugung zu festigen, dass es psychoonkologische Mitarbeiter in der Krebsversorgung gibt. Offen blieb hingegen die unter praktischem Gesichtspunkt zentrale, nächste Frage, wie viele man denn wohl benötige.

Die Gründe für diese sonderbare Leerstelle mögen vielfältig sein. So ist es schon nicht leicht, sich auch nur darauf zu verständigen (oder halbwegs überzeugend zu operationalisieren), was denn wohl “angemessen” oder nötig sei. Ein vielleicht nicht beabsichtigter, aber zumindest berufspolitisch nicht schädlicher Aspekt dieser Leerstelle ist, dass man so stets über (vielleicht tatsächliche, vielleicht aber auch bloß vermeintliche) Versäumnisse der Somatischen Medizin klagen kann, nämlich dass es nicht genug Psychoonkokologen gebe. An dieses Lamento hat man sich inzwischen fast gewöhnt.

Nachdem es nun also in Deutschland schon seit Jahrzehnten psychoonkologische Versorgung in Akutkliniken gibt, und um diese soll es hier nur gehen, aber bislang eben keine irgendwie rational unterfütterten Aussagen zur Höhe des Personalbedarfs, ist es umso bemerkenswerter, dass unlängst in der Zeitschrift Der Onkologe eine von den Vorständen der PSO erstellte Berechnung des Personalbedarfs veröffentlicht wurde.

Ich habe mich mit dieser inhaltlich und strategisch außerordentlich wichtigen Veröffentlichung im Mai sehr gründlich befasst. Leider habe ich dabei eine Vielzahl von Fehlern und Ungereimtheiten gefunden, auf die ich auch durch einen Leserbrief hingewiesen habe. Dieser befindet sich derzeit noch im Druck und man wird abwarten müssen, wie die Autoren zu den Kritikpunkten Stellung nehmen.

Die in meinen Augen vorliegenden konzeptuellen und auch handwerklichen Fehler der veröffentlichten Berechnung wirken sich zudem alle in dieselbe Richtung aus, sie führen nämlich zu einer massiven Überschätzung des Personalbedarfs. Die ohnehin geläufige Klage über eine unzureichende Personalausstattung in der Psychoonkologie wird damit zweifellos zu einer dauerhaften werden.

Meine ausführliche kritische Analyse des von Mehnert-Theuerkauf et al. veröffentlichten Vorschlags findet man bei Interesse unter diesem Link. Und wer diesen Text ggf. zitieren will, verwende dazu bitte folgende Kennung als Quelle: Doi.org/10.6084/m9.figshare.12292889

2 Comments

  1. G.Ullrich

    Der Leserbrief ist inzwischen veröffentlicht und die Entgegnung der Autoren, hier stellvertretend für die Autoren verfasst von Frau Prof. Mehnert-Theuerkauf unter dem Titel „Entität psychosozialer Belastung und psychischer Komorbidität als vielschichtiges Zusammenspiel von Faktoren“, liest sich wie folgt:
    1. Als Vorbemerkung wird von ihr aus einem Dokument von mir zitiert, auf das ich angeblich in meinem Leserbrief verwiesen hätte. In diesem Dokument schreibe ich, dass bei Krebskranken – ähnlich wie bei anderen Menschen mit schweren körperlichen Krankheiten – in der Regel einige wenige Beratungsgespräche (anstelle einer langwierigen Psychotherapie) ausreichten, da diese Menschen in der Mehrzahl gar nicht seelisch gestört seien, sondern nur schwer seelisch belastet.
    Laut Prof. Mehnert-Theuerkauf sei diese meine Feststellung allerdings „wissenschaftlich überholt“, weil man heutzutage längst wisse, dass alles viel komplexer miteinander verwoben sei, nämlich Ausdruck und Folge eines Wechselspiels von Genen, prämorbider Belastung, Tumorentität usw. (wie es auch im oben genannten Titel ihrer Entgegnung anklingt).
    2. Es sei keineswegs so, wie ich es angeblich behauptet hätte, dass die Autoren für die „Bedarfsabschätzung“ allein die psychische Komorbidität zugrunde legen würden, sondern es würde auch die „subjektive Bedürfnisseite“ sowie die Evidenz zur Wirksamkeit der Maßnahmen berücksichtigt.
    3. Die von mir angeblich für „unpassend“ gehaltene Auflistung von Tätigkeitsmerkmalen der psychoonkologischen Versorgung in Tabelle 2 der Veröffentlichung entspreche der S3-Leitlinie, weshalb sich jedes weitere Eingehen auf meine Kritik “erübrigt“.
    4. Die von mir monierte Feststellung der von einer Vollzeitkraft maximal zu versorgenden Patienten sei „aufgrund der Evidenz“ sehr wohl gerechtfertigt und man habe sich hier „transparent“ an die Daten von Jung et al. (2014) gehalten.
    5. Die von mir für unrealistisch gehaltene Annahme einer 100%-Versorgung sei gerechtfertigt, denn „Versorgung umfasst auch die (…) Feststellung des Versorgungsbedarfs bzw. der subjektiven Bedürftigkeit“ und zwar „auch bei Patienten mit niedriger Belastung/geringer Komorbidität“. Zu dieser bereits bemerkenswerten Aussage gesellt sich noch die erstaunliche Feststellung, dass diese „Abklärung“ (der Bedürftigkeit) eine „Aufgabe der Psychoonkologen“ sei, wobei bei bloßer Feststellung der Bedürftigkeit die „zeitlichen Belastungen dann natürlich geringer“ seien, was man im Zeitbudget aber „berücksichtigt“ habe.
    6. Die Kritik in meinem Punkt 4 des Leserbriefs, wonach die Autoren in ihrem „Versorgungsalgorithmus“ zwei Gesichtspunkte nicht klar voneinander unterscheiden nämlich, wie viele Patienten eine Vollzeitkraft pro Jahr versorgen kann und bei wie vielen Patienten pro Jahr eine Vollzeitkraft mit dem besagten Volumen ausgelastet ist, bleibe unklar und es würden von mir auch keine Alternativen genannt, weshalb auch darauf nicht weiter einzugehen sei.

    Ungewöhnlich ist, dass es einen zusätzlichen Kommentar zu meinem Leserbrief gibt, nämlich von Prof. Höffken, dem aktuellen Herausgeber der Zeitschrift, in dem dieser ausdrücklich darauf hinweist, dass die von mir in meinem Leserbrief zitierten eigenen Texte auf preprint-Servern veröffentlicht wurden, also jenseits des Peer Reviews, und dass damit ein wichtiges Element der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle fehle. Im Übrigen sei der meinem Leserbrief zugrundeliegende (preprint-) Text in „Form und Charakter kritikwürdig“ (ohne dass dies in irgendeiner Weise spezifiziert wird).

    Entgegnung von Prof. Mehnert-Theuerkauf unter:
    https://link.springer.com/article/10.1007/s00761-020-00810-w
    Kommentar von Prof. Höffken unter:
    https://link.springer.com/article/10.1007/s00761-020-00814-6

    • Gerald Ullrich

      Zu den Ausführungen von Frau Prof. Mehnert-Theuerkauf ist von meiner Seite zu sagen:

      Ad 1) aus dem Dokument habe ich in meinem Leserbrief gar nicht zitiert, ich käme wohl auch nicht auf eine solche Idee. Tatsächlich stammt die von Frau Prof. Mehnert-Theuerkauf ausgewählte Passage aus einem Dokument von meiner Praxis-Homepage, das ich für Patienten geschrieben habe.
      Was an der Aussage wissenschaftlich überholt sein soll, habe ich bislang nicht nachvollziehen können. Immerhin passt meine Aussage sehr genau zum tatsächlichen Inanspruchnahmeverhalten von krebskranken Patienten und anderen somatisch Kranken, mit denen ich mich in den zurückliegenden 30 Jahren meines Berufslebens klinisch befasst habe und das ich nahezu ausschließlich in der Somatischen Medizin verbracht habe. Pikant ist zudem, dass meine Einschätzung in vollem Einklang steht zu der vielfach (und auch von Frau Prof. Mehnert-Theuerkauf) zitierten Arbeit von Singer, Glaesmer und Lehmann-Laue (2010), aus der ich in meiner dem Leserbrief zugrunde liegenden Kritik an Mehnert et al. (2020) am Ende die Einschätzung zitiere, dass das Gros der onkologischen Patienten »mit wenigen Beratungsgesprächen ausreichend versorgt« sei (Singer et al. 2010 , S. 377; Hv. GU).

      Ad 2) Hier widerlegt Frau Prof. Mehnert-Theuerkauf eine Behauptung, die ich gar nicht gemacht habe. Denn es ist ja ganz offensichtlich (und nicht unproblematisch), dass für die Bedarfsabschätzung von den Autoren eine Summe gebildet wird bestehend aus subjektiver Belastung, Bedürfnis und objektivem Bedarf.
      Was ich hingegen kritisiert habe ist, dass die Autoren mindestens suggestiv „objektiven Bedarf“ mit psychischer Komorbidität gleichgesetzt haben. Diese von mir beklagte Gleichsetzung findet sich im Übrigen auch in einer von Frau Prof. Mehnert-Theuerkauf mit verfassten, ganz aktuellen Veröffentlichung wieder, was meine Behauptung einer beabsichtigten Gleichsetzung noch untermauert: „objektiver Unterstützungsbedarf (psychische Störung) bei Patienten“ (Ernst et al., 2020, FORUM 35(2), S. 148f)

      Ad 3) Erneut ein Scheingefecht, denn ich habe nicht die Auflistung in der Tabelle 2 für „unpassend gehalten“, sondern die (wiederholte und falsche) Zuordnung der Psychoedukation zu den indirekten Versorgungsleistungen. Im Übrigen hatte ich moniert, dass als Quelle für die Tabelle eine Originalarbeit genannt wurde, in der diese so aber gar nicht vorkommt.

      Ad 4) Die „empirische Evidenz“, die hier auf einer einzigen Studie fußen muss, was für sich genommen schon problematisch ist, besagt etwas anderes nämlich, dass eine Vollzeitkraft 351 bis 436 Patienten pro Jahr versorgen kann. Insofern kann überhaupt keine Rede davon sein, dass man sich „transparent“ an die Daten von Jung et al. (2014) gehalten habe. Es kommt aber noch toller (siehe unten).

      Ad 5) Wenn als „Versorgung“ bereits die heute üblicherweise über ein standardisiertes Screening erfolgende Abschätzung der Bedürftigkeit gezählt wird, dann allerdings wäre eine 100%-Rate im Bereich des Möglichen. Sie wird aber, wie man weiß und seit Jahren beklagt, selbst hier lange nicht erfüllt. Ein solches Screening führt aber nicht der Psychoonkologe durch, sondern er oder sie übernimmt nur die nachgeordnete Bedarfsabklärung solcher Patienten, die im Screening auffällig waren. Diese nachgeordnete Abklärung der Versorgung zuzurechnen, ist in meinen Augen legitim, man ist dann aber eben nicht mehr bei 100%.
      Dass nun die Psychoonkologen auch die Bedarfsabklärung bei Patienten mit geringer subjektiver Belastung/psychischer Komorbidität vornehmen sollen, ist schon einigermaßen kurios und führt den Gesichtspunkt des Screening ad absurdum.
      Rätselhaft und alles andere als „transparent“ mutet es zudem an, wie die Autoren ausgerechnet auf ein geringeres Leistungsvolumen einer Vollkraft kommen (im Vergleich zu Jung et al. 2014), wenn man diesen in der Tat geringer ausfallenden Zeitbedarf, der bei bloßer Feststellung der Bedürftigkeit resultiert, als Versorgungsleistung „berücksichtigt“ hat. Das Umgekehrte, also höhere Patientenzahlen (wegen durchschnittlich geringerem Aufwand), wäre unter diesem Aspekt plausibler gewesen. Auch das stimmt aber nicht wirklich, denn es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass dieser – tatsächlich geringere – Zeitaufwand in der Studie von Jung et al. nicht berücksichtigt worden wäre, so dass – wenn schon – die dort ermittelten Werte die besser zutreffenden sein sollten, jedenfalls aber nicht deutlich niedrigere, wie es Mehnert et al. in ihrem Papier getan haben.

      Ad 6) Wenn jemand davon überzeugt ist, dass Psychoonkologen 100% der Patienten „versorgen“, entweder indem sie sich um den Bedarf der Patienten kümmern, oder indem sie deren bloße Bedürftigkeit abschätzen, dann in der Tat ist die in meinem Punkt 4 des Leserbriefs vorgebrachte Kritik „unklar“. Da wir aber bislang – und durchaus gemäß der S3-Leitlinie! – ein gestuftes Vorgehen haben, das ein von anderen Mitarbeitern (Ärzte, Pflegepersonal) vorgenommenes Screening vorsieht, dessen positive Fälle dann für eine genauere Abklärung der Bedürftigkeit in der Psychoonkologie angemeldet werden, ist mein Hinweis weiter voll berechtigt, dass wir unterscheiden müssen zwischen der Anzahl der Patienten, die eine Vollzeitkraft pro Jahr versorgen kann (seien dies 300, 380 oder wie viele auch immer), und der Zahl der im jeweiligen Krebszentrum betreuten Patienten, die es braucht, bis eine solche Vollzeitkraft mit ihrem Leistungsvolumen ausgelastet ist. Diese zweite Zahl wird sich zwischen Organzentren mit durchschnittlich hohem und niedrigem Bedarf unterscheiden, nicht aber die erste! Genau dieser Punkt wurde in dem Papier von Mehnert et al. nicht ausreichend begriffen und berücksichtigt, wie ich es in meinem Leserbrief moniert habe. Dessen Kritikpunkt behält aus diesem Grund auch nach der Entgegnung von Frau Prof. Mehnert-Theuerkauf seine volle Gültigkeit.

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