„Wir sind nicht alle“, mit diesem Titel ist im Herbst im Beck-Verlag ein Buch der Politologen Johannes Plagemann vom Institute for Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg und dem in Berlin an der Friedrich-Ebert-Stiftung ansässigen Henrik Maihack erschienen.

Das Buch will erläutern, weshalb zahlreiche Länder auf der Welt sich zunehmend weniger daran ausrichten oder gar halten, was die reichen Länder (des Westens) als das Richtige betrachten und verkünden. “Wir”, die wir in einem dieser Länder leben, merken zunehmend, dass wir eben “nicht alle” sind bzw. für alle sprechen und entscheiden können. Und mit dem Untertitel, “Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“, wird auch gleich die Tonlage angestimmt, um die es auf 226 durchweg interessant zu lesenden Seiten geht.

Wer ist „der“ Westen? Das sei, so die Autoren, viel leichter zu bestimmen als die Frage, wer denn wohl zum Globalen Süden zählt. „Wir verstehen den Westen in diesem Buch so wie ihn viele im Globalen Süden sehen: Als die Gruppe industrialisierter Staaten, die ihren Reichtum maßgeblich durch Sklavenhandel, Kolonialismus, Imperialismus und die Ausbeutung fossiler Rohstoffe vorfinanziert haben (…) Das ‚Wir‘ im Titel dieses Buchs meint also alle, für die diese Dominanz lange selbstverständlich war und vielleicht immer noch ist. Immer wenn in diesem Buch von ‚wir‘ zu lesen ist, geht es um alle – uns Autoren eingeschlossen –, die von den vom Westen angeeigneten historischen und aktuellen Privilegien profitiert haben (…) Der Westen, wie er in diesem Buch verstanden wird, vereint also vor allem die reichen Industriestaaten des globalen Nordens.“  (S. 10f).

Für den Globalen Süden hingegen gibt es weniger einhellige Vorstellungen. „Sicher ist, dass der Globale Süden mehr ist als Geografie“ (S. 11). Um einer Definition des Globalen Südens näher zu kommen, könne man, so die Autoren, „alle Länder Asiens, Afrikas, des Mittleren Ostens und Lateinamerikas dazu zählen, die sich selbst nicht als Teil des Westens verstehen und historische Marginalisierungserfahrungen durch den Westen teilen. Auch ein mächtiger werdendes China gehört daher eigentlich dazu“, nicht aber Russland, andere osteuropäische Staaten, Neuseeland, Australien oder ostasiatische Industriestaaten mit hohem oder höherem Wohlstandsniveau als in Europa (S.12f).

Beide Autoren haben durch viele Jahre beruflicher Tätigkeit im Ausland eine nicht nur auf Texten und Lektüre basierende Kenntnis, wie sich der reiche Westen im Globalen Süden ausnimmt. In vier großen Kapiteln bringen die Autoren sowohl „die Ignoranz des Westens“ zur Sprache als auch die zunehmend eigenständigere, und im Westen oft nicht auf Anhieb verständliche Weise des politischen Manövrierens von Staaten des Globalen Südens:
1. „Warum man im Globalen Süden ein anderes Geschichtsverständnis hat als im Westen“ (S. 29-82);
2. „Wie sich kleine und große Staaten im Globalen Süden Alternativen zum Westen zu Nutze machen” (S. 83-134);
3. „Warum man im Globalen Süden den Westen für viele Krisen verantwortlich macht” (S. 135-174);
4. „Wie internationale Organisationen auf den Wandel der Weltpolitik reagieren” (S. 175-210).

Nachfolgend seien einige griffige Passagen daraus zitiert:
„Im Westen war der ‚Postkolonialismus‘ bis vor kurzem noch Gegenstand von Diskussionen in akademischen Nischen. Tatsächlich ist dessen Kerngedanke aber in weiten Teilen des Globalen Süden populärer Mainstream. Postkolonialismus beschreibt das Fortbestehen wirtschaftlicher, sozialer und rassistischer Ausgrenzung in der Folge von Imperialismus und Kolonisierung. Diese Kontinuität soll die weiterhin bestehende und teilweise sogar zunehmende Ungleichheit zwischen Globalem Norden und Süden erklären. Dass dieser Blick auf die Welt bisher im Westen kaum über den linken Rand und sozialwissenschaftliche Fachzirkel hinausgekommen ist, zeigt die Ignoranz des Westens und erschwert heute strategische Außen- und Entwicklungspolitik“ (S. 46f).

 „Während die 1990er Jahre für viele politische Entscheidungstragende im Westen eine prägende Erfahrung des Triumphes westlicher Werte und Ordnungsvorstellungen darstellen, waren sie im Globalen Süden eine Zeit der fortgesetzten Abhängigkeit, der Doppelstandards und der sozio-ökonomischen Krisenerfahrungen. Das blieb nicht folgenlos“ (S. 74).

„Staaten, die nicht akut bedroht werden, vermeiden es, sich allzu eng an den Westen zu binden. So begründen die größeren ebenso wie die kleineren Staaten des Globalen Südens einen Trend hin zum Pragmatismus in den internationalen Beziehungen. Nicht Lager-Denken oder Wertepartnerschaften, sondern pragmatischer Interessenausgleich zwischen souveränen Staaten. Pragmatismus, das klingt für manche im Westen nach dem Ausverkauf von Werten. Wo bleibt der Anspruch, die Welt besser zu machen? Gerade dort, wo Hunger, Ungleichheit und Unfreiheit regieren? Der in der deutschen außenpolitischen Debatte oftmals so prominent betonte Gegensatz zwischen Interessen und Werten ist aber für viele im Globalen Süden gar keiner. So argumentiert man in den Regierungszentralen Indiens ebenso wie in Kenia oder Bangladesch. Moral als Grundlage von Außenpolitik, das klingt für viele im Globalen Süden eher nach einer Drohung. Das gilt selbst in den großen Demokratien in Südafrika, Brasilien oder Indien, deren Verfassungen progressiver sind als viele im Westen. So bestimmen bisher nicht die vielversprechenden Ansätze für eine feministische und moderne Außen- und Entwicklungspolitik die Diskussionen des westlichen Engagements im Globalen Süden, sondern eher die Erinnerung an eine als wertegebundene Außenpolitik getarnte Interessenpolitik des Westens von der Kolonialzeit bis heute. Regierungen im Globalen Süden wünschen sich eine Außen-, Wirtschafts- und Handelspolitik des Westens, die bessere Angebote macht, anstatt Verhandlungen mit Diskussionen über Werte zu verkomplizieren oder die eigentlichen Interessen hinter moralischen Prinzipien zu verstecken“ (116f; Hv. GU).

„Dass sich der Begriff der Multipolarität im Westen bisher nur langsam durchsetzt, hat mehrere Gründe. Zum einen fällt es dort schlicht schwer anzuerkennen, dass man es mit einer neuen, post-westlichen Weltordnung zu tun hat. Im Gegensatz zu früher kann Weltpolitik heute kein Arrangement zwischen westlichen Großmächten und Russland mehr sein. Das verunsichert. Leichter fällt es da vielen, eine Wiederbelebung von Bipolarität zu sehen, die man im Westen gut kennt. Diesmal nicht im Kalten Krieg zwischen dem Westen und dem Ostblock, sondern zwischen dem Westen und China (eventuell mit Russland). Was man kennt, ist weniger verunsichernd. Wer jedoch vor allem nach neuer Bipolarität sucht, ohne Multipolarität zu sehen, übersieht die Brüche im vermeintlich geeinten Westen ebenso wie die zunehmende Bedeutung von Süd-Süd- Beziehungen“ (S. 179).

„Autokratie und Korruption sind lange eine angenehme Ausrede des Westens gewesen, um dem Globalen Süden globale Mitsprache zu verwehren. In Diskussionen über einen aufstrebenden Globalen Süden kommt man daher mit Gesprächspartnern von Regierungen aus dem Westen regelmäßig an einen Punkt, an dem das berechtigte Anliegen der Demokratisierung der internationalen Politik zwar anerkannt wird, aber auch sogleich mit dem Verweis auf die Defizite an Demokratie und guter Regierungsführung relativiert wird. Implizit schwingt die Annahme mit, dass die Länder im Globalen Süden erst einmal ihre eigenen Probleme lösen sollten, bevor sie zu gleichberechtigten globalen Partnern werden können. Fast immer folgt ein Verweis auf Korruption, wie wir in Kapitel 3 gezeigt haben. Fast nie wird der historische Beitrag des Westens bei der Autokratisierung vieler Länder des Globalen Südens benannt. Dabei ist der erheblich, das haben wir im ersten Kapitel gezeigt. Der Kolonialstaat hat vielerorts Patronage-Systeme eingeführt, die bis heute wirken“ (S. 209).

„Der vom Westen erhoffte Siegeszug von Demokratie und freien Märkten nach Ende des Kalten Krieges bedeutete in vielen Ländern des Globalen Südens eher die Kontinuität von Krisen. Bürgerkriege dauerten an oder verschlimmerten sich sogar, Kürzungen der öffentlichen Daseinsvorsorge schwächten junge Demokratien, und der Westen kooperierte weiter mit Autokratien, vor allem dann, wenn sie fossile Energien lieferten und dabei halfen, die Migration gen Westen zu verhindern. Deswegen wurde eine Welt mit dem Westen als Zentrum im Globalen Süden als eine Welt der Doppelstandards wahrgenommen, die die historische Ausbeutung der Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika als Grundlage für den Reichtum des Westens vergisst. In diesem Punkt sind sich Regierungen und Gesellschaften im Globalen Süden oft einig. Einig sind sie sich zumeist auch darin, dass am 24. Februar 2022 keine globale Zeitenwende eingeläutet wurde. Wenn wir im Westen an die Ukraine denken, erinnert man im Globalen Süden an den Irak oder Libyen. Für die knapp 130 Länder, die sich heute weder einem westlichen noch einem russischen Lager zuordnen lassen wollen, macht es schlicht keinen Sinn, sich zu Russlands Angriff auf die Ukraine klar zu positionieren. Denn Multipolarität ist für viele Länder des Globalen Südens längst Realität und Versprechen für die Zukunft. Für viele im Westen ist es ungewohnt, dass sich andere in dieser Welt besser zurechtfinden als man selbst. Wo der Westen werteorientierte Bündnisse zu schmieden versucht, pflegen die Staaten des Globalen Südens eine eher pragmatische Zusammenarbeit. Wer in dieser Welt die sich überschneidenden Krisen im Globalen Süden als zweitrangig versteht, wird dort nur schwer Partner finden “ (S. 211f; Hv. G.U.).

Während in Europa unter dem Vorzeichen drohender Wohlstandsverluste zunehmend eine Festungsmentalität um sich greift, die nicht nur im Kern rassistisch und inhuman ist, sondern den globalen Dimensionen unserer Probleme nicht gerecht wird, bringt der indische Außenminister das mindestens in Teilen des Globalen Südens aufkeimende, neue Selbstbewusstsein zum Ausdruck, wenn er feststellt: „Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas“ (S. 138).

Das Buch dürfte für jeden, der oder die bereit und in der Lage ist, Zeitungsartikel zur internationalen Politik zu lesen, vergleichbar gut zu lesen und zu verstehen sein. Und nach der Lektüre dieses Buchs wird man den einen oder anderen Zeitungsartikel über die Weltpolitik vielleicht mit anderen Augen und einem besseren Verständnis lesen.
Dass das erst im September herausgekommene Buch laut Verlagsangabe im Internet aktuell bereits in zweiter Auflage erscheint, spricht für sich.

J. Plagemann & H. Maihack (2023): Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens. C.H. Beck-Verlag . 243 Seiten. 18,00 €