Volker M. Heins (Jahrgang 1957) und Frank Wolff (Jahrgang 1977) haben in einem in der edition suhrkamp erschienen Bändchen gewissermaßen ihre jeweiligen Wissenschaftsperspektiven fusioniert: Heins hat sich als Politikwissenschaftler am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen seit Jahren mit dem Thema Migration beschäftigt, Wolff hat sich als Historiker an der Universität Osnabrück mit der neueren und neuesten deutschen Geschichte und hier mit dem Thema Mauer und deutsch-deutsche Migration befasst.

Herausgekommen ist in dem vorliegenden Essay eine verblüffende Perspektive insofern, als es um die „Festung Europa“ geht, aber unter einem eher neuen, dadurch sehr lesenswerten Blickwinkel. Die Redewendung von der Festung Europa ist uns zumal im Kontext der Debatte um Migration längst aus rechtsnationalen Kreisen als Schlagwort und wirkmächtiges Bild für die Abschottung gegen Zuwan­derung bekannt. Die beiden Autoren kehren in ihrem Essay die Perspektive aber um: Hinter den Mauern ist eine Frage der Betrachtung – denn da kann man sowohl vor als auch in der „Festung“ sein. Und die Autoren fokussieren vor allem auf die Frage, was es mit Menschen macht, die in einer „Festung“ leben. Konkret geht es um die Frage, welche Auswirkungen auf die demokratischen Gesell­schaften sich aus dem Umstand der zunehmenden Abschottung nach außen ergeben. Das Thema wird in drei Schritten näher ausgeleuchtet.

Im ersten Kapitel wird aufgezeigt, wie sich das politisch und wirtschaftlich zusammenrückende Europa einerseits gerne als globaler Leuchtturm für die Überwindung von Nationalismus und dem mit ihm eng verbundenen Rassismus präsentiert, tatsächlich aber Rassismus schon im Fundament des Projekts Europa bei näherem Hinsehen unübersehbar ist. So wurden etwa Algeriern, die damals noch auto­matisch französische Bürger waren (da Algerien bis 1962 französisches Département und nicht etwa eine Kolonie war), dennoch nicht dieselben Rechte zugestanden wie geborenen Franzosen. (Des­gleichen Produkte aus Algerien weniger auf dem Markt erwünscht als die des französischen Nachbarn).

Das zweite Kapitel handelt davon, wie Europa sich wiederum global als Leuchtturm für Rechtsstaat­lichkeit und Menschenrechte inszeniert, an seinen sich zunehmend schließenden und paramilitärisch abgesicherten Grenzen aber Rechtsbrüche unterschiedlicher Art auf der Tagesordnung sind – und nicht geahndet werden (ausführlich und exemplarisch hierzu: F. Grillmeier).

Im dritten Kapitel geht es schließlich um das eigentliche Thema der gesellschaftlichen Konsequenzen der Abschottung. In den Worten der Autoren: „die Grenze greift nach innen aus“. Das erläutern sie an fünf Dimensionen: erstens den kollektiven Affekten zunehmender Bedrohung („trotz“ Abschottung), zweitens der zunehmenden Macht des Grenzschutzes und anderer Sicherheitsorgane, drittens der Erosion rechtsstaatlicher Prinzipien im Inneren, unter anderem durch eine mangelnde Ahndung von Rechtsbrüchen gegenüber Migranten (an den Grenzen ebenso wie „in der Festung“), viertens eine Aus­weitung der Kontrolle nach innen, teils durch Prozesse der Stigmatisierung, teils durch eine Auf­weichung der Kriterien des „Fremden“, die sich zunehmend auf das Andersartige oder Unerwünschte schlechthin beziehen.

Wer genau unerwünscht ist und wer darüber hinaus zum Ziel von staatlicher und privater Gewalt werden darf, wird teils im politischen System, teils in der juristischen Praxis und teils in der Öffentlichkeit ausgehandelt. Dominiert wird diese Aushandlung von politischen Eliten und den ihnen nahestehenden Medien, die nur so tun, als reagierten sie auf die Stimme des ‚Volkes‘. In Wahrheit aber reagiert um­gekehrt die Anhängerschaft demagogischer Führer darauf, wie diese Führer den Raum des Sag- und Machbaren erweitern“  (S. 127).

Zur bereits erwähnten Ausweitung der Kontrolle gehört auch, dass zunehmend Bürger sich ermutigt fühlen, selbst aktiv zu werden und sich gegen Migranten (an den Grenzen und im Inneren) zur Wehr zu setzen.

Gewaltbereitschaft an den Grenzen und Angriffe auf Bewohner sind eng verflochten und bieten die hässliche Oberfläche des viel weitergehenden Phänomens einer Beschädigung der offenen Gesellschaft durch die gegenwärtigen und künftig drohenden Formen der Migrationskontrolle“ (S. 128).

Die Bürger, die zu solchen rechtswidrigen Mitteln greifen und sich gar berufen fühlen, werden schließ­lich fünftens unter dem Begriff des neoautoritären Subjekts näher charakterisiert als Personen, die – ähnlich wie es bereits für Coronaleugner und Verschwörungstheoretiker formuliert wurde – sich existentiell gekränkt fühlen, „Groll, Neid und Bitterkeit“ hegen verbunden mit dem Gefühl, „im Leben nicht bekommen zu haben, was man zu verdienen meint“ (S. 138). In Anlehnung an einen amerika­nischen Roman, der in der Rückschau als prophetisch mit Blick auf den Aufstieg Donald Trumps gelten könne, wird für diese Bürger der in dem besagten Roman für den Protagonisten geprägte Begriff „Faschismus des Herzens“ übernommen (S. 139).

Dieser affektive Faschismus speist sich aus einem Leben, das nicht mehr lohnenswert erscheint, weil man nicht mehr automatisch die Nummer eins ist, nicht als Mann, nicht als Weißer, Amerikaner oder Europäer, weder zu Hause noch auf der Straße oder gar in der großen weiten Welt“ (S. 139f; Hv. Im Original).

Unter politischem Aspekt unterscheide sich dieser „Faschismus des Herzens“ sowie die „heutigen For­men des autoritären Populismus vom historischen Faschismus unter anderem dadurch, dass ihr Pro­gramm weder auf imperialistische Kriege noch die Eroberung neuer ‚Lebensräume‘ zustrebt (…) Die neuen Rechtsradikalen möchten nicht mehr die Welt erobern, sondern sie sich ganz buchstäblich – durch möglichst hohe Mauern, Einreiseverbote und ferne Auffanglager – vom Leib halten“ (S. 135f).

Das lesenswerte Buch hat aus Sicht des Rezensenten einen ins Auge springenden Mangel: es fehlt eine machtvolle Gegenerzählung. Jedenfalls wüsste man schon gerne, wie die mit dem Thema der globalen Migration verbundenen gesellschaftlichen Probleme gemeistert werden sollen, ohne dass auf die Gren­zen genauer geachtet wird. Das kommt zwar (auf den letzten sechs Seiten) des vierten und letzten Kapitels vor, hier unter dem Stichwort der Öffnung der Grenzen für alle bzw. der „Demokratisierung“ der Grenzen, lässt aber den nicht näher eingedachten Leser etwas ratlos zurück. Vielleicht ist es eine List? Nämlich, dass die ausführlichere Antwort auf die aufgeworfene Frage, wie die drängenden und zukünftig fraglos zunehmenden Probleme anders zu regeln seien, in dem zwei Jahre früher veröffent­lichten Werk des Politikwissenschaftler Heins gesucht wird: „Offene Grenzen für alle. Eine notwendige Utopie“.

Aber auch ohne einen unmittelbar einleuchtenden, überzeugenden Lösungsvorschlag ist der hier besprochene Essay von Heins & Wolff die Mühe des Lesens wert, vor allem durch die Ausleuchtung des vielschichtigen Schadens, der auch das vermeintlich beschützte und zu schützende Innere der “Festung” mit einschließt. Es schärft so den Blick auf eine im Kern gewissermaßen neo-rassistische Perspektive, die wegen ihrer defensiven, “bloß” abschottenden Stoßrichtung weniger gefährlich erscheinen mag als ihr Vorläufer, es aber nicht ist.

Volker M. Heins & Frank Wolff
Hinter Mauern. Geschlossene Grenzen als Gefahr für die offene Gesellschaft.
edition suhrkamp, 2023
197 Seiten
18,50 €.