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Priv.-Doz. Dr. med. Gratiana Steinkamp
Dipl.-Psych. Dr. Gerald Ullrich

Der Wettlauf mit dem englischen Virusstamm B-117 beginnt – auch in Deutschland

asd

Weihnachten war ich noch froh, dass die Impfungen für alte Menschen und Klinikmitarbeiter beginnen würden.

Heute bin ich sehr besorgt.

In England und in Südafrika haben sich neue, ansteckendere Virusstämme extrem schnell verbreitet. Englische Krankenhäuser stehen vor dem Kollaps. In einigen Regionen wird bereits Sauerstoff knapp. Das könnte auch bei uns bald Realität werden.

So sehen die aktuellen Corona-Infektionszahlen im Vereinigten Königreich und Irland aus:

Link zur Financial Times

In den letzten paar Tagen sind die Fallzahlen senkrecht nach oben geschnellt, z. B. in Irland von etwa 25 auf über 125 pro Tag und 100.000 Einwohner.

Hier der Vergleich Irland – Deutschland:

Grafik: Jakob Stadler, Quelle: https://twitter.com/Karl_Lauterbach/status/1347486151100272642/photo/1
Grafik: Jakob Stadler, Quelle: https://twitter.com/Karl_Lauterbach/status/1347486151100272642/photo/1

Irland hatte seine Sache bisher eigentlich gut gemacht. Um Weihnachten herum wurden jedoch kleinere Lockerungen eingeführt, und kurz danach stiegen die Fälle so rasant an wie nie zuvor. Mindestens 25% der Coronaviren in Irland waren vor einigen Tagen vom Stamm B-117, mit rasch zunehmender Tendenz.

Auch in anderen Ländern wurde dieses Virus mehrfach nachgewiesen, inklusive in Deutschland.

Forscher meinen, dass der neue Virusstamm B-117 zwischen 30 und 70% ansteckender sein könnte.

Da denkt man vielleicht: „O.k., dann haben wir pro Tag in Deutschland nicht mehr 30.000 neue Fälle, sondern 45.000.“ Und „Das wird unser Gesundheitssystem schon schaffen.“

Doch so ist es nicht. Denn es geht um exponentielles Wachstum!

Hier ein Beispiel:

Eine Region hat bisher 1.000 Fälle im Monat. Jede Person steckt eine andere an (R-Wert = 1), dann liegt auch einen Monat später die Zahl der Fälle weiterhin bei 1.000. Das ist die aktuelle Situation.

aktuelle Situation: 1000 Infizierte, R=1, nach einem Monat weiterhin 1000 Infzierte

Nun das, was kommen könnte/ wird: Nehmen wir an, das neue B-117 Virus ist 50% ansteckender. Man behält dieselben Vorsichtsmaßnahmen und Regelungen bei wie für das bisherige Virus. Nach einem Monat gibt es nicht 1.000, sondern ungefähr 10.000 neue Fälle (alte Situation dunkel, neue hell):

Wenn B-117 50% ansteckender ist, gibt es nach einem Monat 10.000 Infizierte, Quelle:
https://www.vox.com/science-and-health/22215121/new-variants-contagiousness-covid-coronavirus)

Nach zwei Monaten wären es 100.000 und nach 4 Monaten 10 Millionen Infizierte (wenn man nichts ändern würde). Auch Todesfälle würden in dem von den Autoren gewählten, realistischen Beispiel nach einem Monat nicht „nur“ um die Hälfte ansteigen, sondern um knapp das Siebenfache, obwohl die Viruserkrankung selbst nicht schlimmer verläuft als mit dem bisherigen Virus.

Was müssen wir tun?

  • Wir müssen das Virus endlich ernstnehmen! Zu meinen, „es wird schon nicht so schlimm werden“ ist spätestens jetzt nicht mehr angebracht. Das kann man auch in Diskussionen mit Bekannten und am Arbeitsplatz zum Ausdruck bringen.
  • Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen, dass an vielen Tagen allein in Deutschland 1.000 Menschen an Covid-19 sterben. Das entspricht täglich 2 Jumbojets, die vom Himmel fallen.
  • Wir müssen auch an die vielen Long Covid Betroffenen denken, die nach der initialen Erkrankung monatelang Beschwerden haben. Dabei geht es nicht nur um Risikogruppen, sondern auch um jüngere und anfangs wenig kranke Infizierte.
  • Jede von uns sollte in den kommenden Wochen persönlichen Kontakt mit anderen Menschen außerhalb des eigenen Haushalts wenn es irgend geht vermeiden. Man muss sich klarmachen (auch wenn es schwerfällt): nicht nur Fremde, sondern auch Freunde und Verwandte können das Virus übertragen! Wenn es unumgänglich ist, sich zu treffen, sollte jede Anwesende die beste verfügbare Maske tragen, wenn möglich eine FFP2-Maske. Alle müssen konsequent Abstand halten, Händehygiene praktizieren, das Lüften beachten. Man sollte auch seltener einkaufen gehen und dabei sehr gute Masken tragen.
  • Das gilt gleichermaßen für das Büro. Homeoffice ist angesagt! Jedoch arbeiten jetzt viel mehr Menschen an ihrem Arbeitsplatz als im März 2020. Und auch die Mobilität ist noch höher als damals. Wer ins Büro muss, sollte eine gute Maske tragen, wenn er Kolleginnen begegnet.
  • Wer berechtigt ist, sich impfen zu lassen, sollte es als Chance begreifen, sich und seine Lieben zu schützen. Zirka 12 Tage nach der ersten Impfdosis kann der Impfschutz bereits beginnen, der dann nach der zweiten Impfung vollständig wird. Sobald ich an der Reihe bin, lasse ich mich sofort impfen.

Was können Regierungen und Organisationen tun?

  • Der von mir sehr geschätzte Experte Prof. Eric Topol aus den USA schlägt für Amerika sogar Impfungen rund um die Uhr an jedem Tag vor, also 24/7, wie es neudeutsch heißt. Das wäre auch für Deutschland eine gute Idee. Denn mit den bisher etwa 50.000 Impfungen pro Tag würde es 1.000 Tage dauern, um 50 Millionen Menschen zu impfen, also 2,7 Jahre. Zum Glück liegen Schwerin und Mecklenburg-Vorpommer ja diesbezüglich ganz weit vorn. Und die Impfzentren nehmen in vielen Bundesländern (erst) nächste Woche ihre Arbeit auf.
  • Wir brauchen dringend Studien zur Beantwortung der Frage, ob die zweite Dosis Impfstoff später verabreicht werden kann als nach 3 bzw. 4 Wochen. Das würde helfen, schnell viel mehr Menschen zu impfen.
  • Die Labore müssen mehr Covid-positive Abstriche auf den neuen Virusstamm testen. Dazu wurde bereits ein Testsystem entwickelt, das relativ wenig Aufwand bedeutet.
  • Wir brauchen mehr Selbsttests für zuhause, für Büros und andere Arbeitsplätze, die man unabhängig von medizinischem Personal durchführen kann. In Österreich werden gerade einfachere Schnelltests für Schulen eingeführt (siehe FAZ vom 9.1.21). Selbst wenn negative Testergebnisse keine Sicherheit geben, dass man nicht vielleicht doch ansteckend ist, führt ein positives Ergebnis dazu, dass die Person isoliert wird und niemand Anderes anstecken kann, solange kein PCR-Testergebnis vorliegt.
  • Arbeitgeber müssen jeden Mitarbeiter ins Homeoffice schicken, bei dem es irgendwie machbar ist.
  • Wir müssen der falschen Behauptung entgegenwirken, es gäbe einen Zielkonflikt zwischen Wirtschaft und Gesundheit. Wirtschaftswissenschaftler haben wiederholt darauf hingweisen, dass eine gute Virus-Eindämmung der Wirtschaft nützt.
  • Mit strengen Kontaktbeschränkungen müssen wir so lange weitermachen, bis wir eine „annehmbare“ Fallzahl erreicht haben, wie eine 7-Tage-Inzidenz von 25. Heute am 11.1.21 werden für Deutschland bei 167 und für Mecklenburg-Vorpommern 134 neue Fälle pro Hunderttausend Einwohner berichtet (mit seit 5 Tagen täglich neuen Höchstständen in M-V).

Was die Beurteilung der Lage angeht, halte ich es mit den Wissenschaftlerinnen Prof. Melanie Brinkmann, Dr. Viola Priesemann, Prof. Isabella Eckerle und Prof. Sandra Ciesek. Natürlich auch mit den Professoren Drosten, Meyer-Hermann und Krammer. Und auch mit Prof. Karl Lauterbach, der unermüdlich (und manchmal nervig) warnt, aber rückblickend mit seinen Einschätzungen ganz gut lag.

So warne auch ich heute eindringlich, weil es mir ernst ist.

Es liegt noch ein weiter und schwerer Weg vor uns.

Anders als vor einem Jahr wissen wir, was zu tun ist. Und wenn wir es tun, gewinnt 2021 nicht das Virus den Wettlauf, sondern wir.

4 Comments

  1. Wolfgang

    Vielen Dank für diese Informationen, liebe Gratiana. Der Grundton deines Artikels unterstreicht die Dramatik des Inhalts, denn ich weiß ja, wie sehr dir jeglicher Alarmismus fernliegt. Hoffentlich wächst der Mensch auch im Plural an seinen Aufgaben…

    • Gratiana Steinkamp

      Lieber Wolfgang,
      ja, Alarmismus liegt mir fern, das ist richtig. Aber ich bin sehr geprägt von der langfristigen Betreuung chronisch lungenkranker Menschen. Dort überwachen Ärzte fortlaufend wichtige Krankheitsparameter, um etwaige Trends zum Schlechteren hin schnell erkennen und dann vor allem sofort reagieren zu können. Ein bisschen ähnlich ist es, wenn ich Pandemie-Daten im Verlauf anschaue und mich informiere, was um uns herum bei denen passiert, die “früher dran” sind als wir. Man kann natürlich auch warten, bis alles ganz schlimm geworden ist, und dann Ausgangssperren o.ä. verhängen. Das passierte ja seitens der Politik in den letzten Monaten einige Male. Also akut auf eine schlimme Situation reagieren, ähnlich wie es ein Unfallchirurg macht, wenn er einen Schwerverletzten operiert und “wieder zusammenflickt”. Das funktioniert bei Covid-19 nicht, weil wir – anders als der Chirurg – keine wirklich wirksame Behandlung zur Verfügung haben.
      Am 18.10.20 hatte ich in einem früheren Blog-Beitrag schon einmal gewarnt, weil ich ein ungutes Gefühl hatte. Damals lag die 7-Tage-Inzidenz bei 43 Fällen pro 100.000 Einwohner. Dann stieg die Fallzahl steil an, und vier Wochen später lag die Inzidenz schon bei 143.
      Ich hoffe sehr, dass mein Warnruf im aktuellen Blog-Artikel sich im Nachhinein als unnötig und unzutreffend erweist!
      Gratiana

  2. CK

    Wiedermal eine sehr informative Zusammenfassung der neuen Ereignisse! Ich bin aktuell auf einer Intensivstation in Brandenburg tätig. Aktuell sind wir dort ausschließlich mit Covid Patienten belegt. Vergangene Woche wurde mit den ersten Impfungen begonnen und leider ist die Bereitschaft sich impfen zu lassen in der Pflege selbst auf der ITS gering. Auch hier werden teilweise Meinungen ähnlich denen der “Querdenker” geteilt. Ich kann diese Einstellung bei dem täglichen Kontakt mit schwerstkranken Covid Patienten nicht verstehen. Unter Ärzten scheint die Bereitschaft größer zu sein, aber auch hier gibt es “Verweigerer”. Ich selbst habe mir die Chance nicht entgehen lassen. Bei aller Aufregung um den neuen RNA-Impfstoff, ist das Nebenwirkungsspektrum bei mir persönlich nicht von dem anderer Impfungen zu unterscheiden. Leichte Muskelschmerzen am Arm der Impfung für 2 Tage und etwas geschwollene Lymphknoten. Ich hoffe mit zunehmender Anzahl harmloser Impfberichte wird die Impfbereitschaft steigen.

    • Gratiana Steinkamp

      Dank an CK für diesen Erfahrungsbericht! Ich hofffe auch sehr, dass sich mehr und mehr Pflegekräfte (und Ärzte) impfen lassen. Das würde auch den Patienten auf Nicht-Covid-Stationen eine größere Sicherheit geben. Manch ein Krebspatient fühlt sich heute doppelt unwohl, wenn er ins Krankenhaus muss. Doch zum Glück wurde medizinisches Personal, das onkologische Patienten betreut, ja hier in Schwerin und Anderswo schon geimpft.

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