Wenn die medizinische Behandlung von Krankheiten Fortschritte macht, sollte man meinen, das dies auch im Interesse des Patienten liegt und zu größerer Zufriedenheit der Patienten führt. Dass Patienten an der “bestmöglichen” Behandlung interessiert sind, darf man voraussetzen, und folglich müssten Fortschritte auch zu größerer Zufriedenheit führen.

Ganz so einfach ist die Sache leider nicht, denn manche Fortschritte mögen für den Patienten gar nicht auf Anhieb als solche erkennbar bzw. im Wortsinne nicht wahrnehmbar sein, auch wenn die Wissenschaft sie zweifelsfrei als Fortschritte zu objektivieren vermag.

In dieses schwierige Gelände hat sich eine Arbeitsgruppe der Chirurgischen Klinik an der Universität Mannheim begeben. Die hat sich nämlich der Frage zugewandt, ob sich Veränderungen beim perioperativen Management, also alles rund um die OP, bei Darmkrebspatienten vorteilhaft für diese auswirken. Ihre Ergebnisse stellten die Autoren auf dem 5. interdisziplinären Kongress „Quality of Cancer Care“ (Qualität der Krebsbehandlung) vor, der wegen Corona im letzten Jahr zwischen dem 20.1.21 und 19.2.21 erstmalig bloß digital durchgeführt wurde. Der Titel ihrer Studie lautet (sehr kompliziert und) anspruchsvoll: Entlassung 3 Tage nach Darm-Krebs-OP und bestmögliche Patientenorientierung – Ist das zu vereinbaren? – Erste Ergebnisse nach Transformation eines langjährigen “Fast-Track-Colon-Pfades” in einen kolorektalen ERAS® (Enhanced Recovery After Surgery) Behandlungspfad (Hervorhebung von mir).

Es wird also untersucht, ob ein beschleunigtes Prozedere beim Management von Darmkrebsoperationen (Fast-Track-Colon-Pfad) durch ein nochmals beschleunigtes Vorgehen (ERAS®) noch zum Vorteil des Patienten ausfällt bzw. in den anspruchsvollen Worten der Mannheimer Chirurgen: mit bestmöglicher Patientenorientierung kompatibel ist.

Die Frage dürfte tatsächlich jedem einleuchten: Ist es noch “bestmögliche Patientenorientierung”, wenn man drei Tage nach chirurgischer Entfernung eines Darmkrebses schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird? Dass beschleunigte Prozeduren in den Krankenhäusern um sich greifen, und zwar nicht immer zum Wohle des Patienten, ist in der Öffentlichkeit längst angekommen und wird seit Jahren zum Beispiel unter dem Stichwort der “blutigen Entlassung” diskutiert: da wird dann nämlich außer dem betroffenen Patienten im Einzelfall auch die Rehaklinik, der Pflegedienst und oder der Hausarzt in arge Bedrängnis gebracht.

In Mannheim gab es bereits seit 2008 ein beschleunigtes perioperatives Vorgehen bei Damrkrebsoperationen (Fast-Track), das 2019 durch die Einführung eines zertifizierten Programmes namens ERAS ® noch einmal gestrafft wurde. Dieses “Turbo”-Vorgehen, wie man es umgangssprachlich auch bezeichnen könnte, wurde damals auch an der Schweriner Heliosklinik eingeführt, weshalb ich es auch gewissermaßen aus der Nähe kenne.

Wie der Titel der Mannheimer Studie bereits andeutet, handelt es sich um “erste Ergebnisse”, was immer bedeutet, es ist ein laufender Prozess und man muss mit anfangs noch kleinen Fallzahlen rechnen. Das bedeutet naturgemäß ein höheres Fehlerpotential hinsichtlich positiver oder negativer Schlussfolgerungen, die dann nämlich verfrüht gezogen worden sein könnten.

Konkret wird von den Mannheimer Chirurgen über fünf (!) Patienten berichtet, die nach dem neuen Verfahren behandelt wurden. Sie werden verglichen mit 50 Patienten, die nach dem zwischen 2008 und 2019 geltenden Vorgehen (Fast-Track) behandelt wurden. Unter dem neuen ERAS® -Programm zeigten sich zahlreiche Verbesserungen: eine deutliche Steigerung der minimal-invasiven Operationen (von 54% auf 80%); eine deutliche Abnahme bei Kathetern; der Zeitraum bis zum Tolerieren fester Nahrung sei halbiert worden (von zwei Tagen auf einen Tag); die Frühmobilisation durch Aufstehen aus dem Bett noch am Tag der OP wurde verbessert (von 42% auf 80%); die Entlassung in die Häuslichkeit konnte unter ERAS® bereits am dritten postoperativen Tag erfolgen, während es bei den früheren Patienten der fünfte Tag war und vor 2008, also als man das Fast-Track-Vorgehen in Mannheim einführte, waren Patienten erst am neunten Tag entlassen worden, jeweils komplikationslosen Verlauf vorausgesetzt.
Positiv hervorzuheben ist zudem, dass die Rate an postoperativen Komplikationen trotz des nochmals beschleunigten Vorgehens unter ERAS® unverändert blieb.
Die Mannheimer Chirurgen erwähnen in der Diskussion ihrer Ergebnisse die Einsparung an Krankenhaustagen als auffälligste Verbesserung.

Wer diese Zusammenfassung aufmerksam gelesen hat und den anspruchsvollen Titel der Studie noch im Hinterkopf behalten hat, in dem ja von “bestmöglicher Patientenorientierung” die Rede ist, wird sich vielleicht fragen, was die hier von den Mannheimer Chirurgen vorgetragenen Ergebnisse eigentlich mit Patientenorientierung zu tun haben? Zwar mag es im objektiven, wohlverstandenen Interesse des Patienten liegen, dass es durch medizinischen Behandlungsfortschritt zum Beispiel zu weniger Komplikationen kommt (was in dieser Studie gar nicht der Fall war). Auch könnte es im Interesse des Patienten sein, dass primär minimal-invasiv operiert wird und unschöne Bauchnarben minimiert werden (obwohl das nicht der Hauptgrund dieser Technik ist). Aber “Patientenorientierung”, sollte man meinen, hat doch vor allem etwas mit den Patienten als Subjekten zu tun. Also etwa mit der Frage, ob die Behandlung ihren Erwartungen entsprochen hat. Konkret: ob sie es als Vorteil oder als Belastung erlebt haben, schon am Tag der Operation erstmalig aus dem Bett aufzustehen und sich zu mobilisieren. Oder ob man sich lieber noch etwas im Krankenhaus auskuriert hätte, anstatt sich mit frisch operiertem Bauch gleich wieder daheim zu befinden. Dies nur als Beispiele für das, was einem sonst noch zu der (Optimierung der) “Patientenorientierung” einfallen könnte.

Um nicht missverstanden zu werden: dies ist nicht als psychologisch argumentierendes Plädoyer gegen ERAS® gemeint. Vielmehr soll an diesem Beispiel auf einen leider auch in der Medizin verbreiteten Trend aufmerksam gemacht werden, bei dem die Verpackung und der Inhalt nicht mehr zusammenpassen. Zumal bei vollmundig daher kommenden Titeln sollte man also sehr genau hinschauen, was wirklich untersucht wurde. Letzteres ist oftmals keineswegs unwichtig. Aber wie auch im vorliegenden Fall ist es zuweilen nicht nur viel weniger, sondern etwas ganz anderes.

Quelle: Hardt, Seyfried, Schröter, Reißfelder & Herrle: Entlassung 3 Tage nach Darm-Krebs-OP und bestmögliche Patientenorientierung – Ist das zu vereinbaren? – Erste Ergebnisse nach Transformation eines langjährigen “Fast-Track-Colon-Pfades” in einen kolorektalen ERAS ® (Enhanced Recovery After Surgery) Behandlungspfad. Forum Krebsmedizin, 2021, Heft 1, S. 102.