Der heutige Blogeintrag versteht sich als Buchempfehlung für (psycho-) onkologisch Tätige, hier unbesehen des beruflichen Qualifikationshintergrundes.

Ich tue dies für ein Buch, das ich unter „normalen“ Umständen seines Titels wegen nie in die Hand genommen hätte: Das Geheimnis des Lebens berühren von Erhard Weiher, bei Kohlhammer 2014 in bereits 4. Auflage erschienen.

Als ein nie irgendwelcher esoterischer Anwandlungen verdächtig gewesener Mensch habe ich das Buch angeschafft, weil es auf der Literaturliste des Dozenten und sehr geschätzten Kollegen Dr. Klaus Lang aus München stand, der mich und die anderen Teilnehmer der psychoonkologischen Weiterbildung 2018 über Spiritualität und Begleitung am Lebensende fit machen sollte. Und das Buch, das ich dann – mit einer gerüttelt Portion Skepsis – später angeschafft und gelesen habe, stellte sich schließlich als eines heraus, das ich im Kontrast zu manchen psychoonkologischen Texten, die ich zwischenzeitlich gelesen habe, als ein für meine konkrete, praktische Arbeit ausgesprochen bereicherndes Werk zu schätzen gelernt habe.

Das Buch des Dipl.-Physikers und Dipl.-Theologen Erhard Weiher, der als Krankenhausseelsorger seit langen Jahren in Mainz tätig ist, lässt sich eigentlich besser bzw. treffender durch seinen Untertitel kennzeichnen. Der nämlich lautet: „Spiritualität bei Krankheit, Sterben, Tod. Eine Grammatik für Helfende“.

Der Kerngedanke des (leider sehr umfangreichen und auch redundanten) Buchs lautet, dass Spiritualität nicht erst mit dem beginnt, was in der postmodernen, der Esoterik eher zugeneigten Gesellschaft gern unter diesem Label den zuhauf Sinnsuchenden angeboten wird. Vielmehr versteht Weiher unter Spiritualität und dem „Geheimnis des Lebens“ das fortwährende Suchen jedes Menschen nach etwas Heiligem und einem Ganzen, zu dem er oder sie sich in irgendeiner Weise in Beziehung sieht. Dabei muss Heiliges nicht automatisch den christlichen Gott bedeuten, sondern er versteht es als Wertorientierung und Beseelung des Menschen, „für die innerste Qualität des Menschen und seines Schicksals, aber auch dessen Eingebettetsein in ein Größeres“ (S. 49).

Als „Grammatik“ betrachtet Weiher sein Buch insofern, als er erstens dargelegt, dass „Spiritualität zur Grundausstattung des Menschen gehört“ (S. 5), was auch bedeutet, dass sie auch regelhaft bei unseren Patienten „anzutreffen“ ist, und zwar dann eben nicht nur bei jenen, die „das Spirituelle“ explizit als persönlich wichtig betrachten. Eine „Grammatik“ will das Buch vor allem insoweit sein, als „spirituelles Erleben (…) bei weitem nicht erst in großen Höhen oder tiefen Versenkungen (stattfindet). Die hier entworfene ‚Grammatik‘ stellt Sprachmuster auch und zuerst für die Alltagserfahrung vor, in der berufliche Begegnungen stattfinden“ (a.a.O.).  Spiritualität begreift Weiher insofern als etwas, was jeden in unserem Bereich Tätigen etwas  angeht (und nicht als Stichwort zum gewissermaßen „konsiliarischen“ Hinzuziehen der Krankenhausseelsorge). „Daher sollten alle Behandler und Begleiter prinzipiell etwas davon verstehen, wie sie der Innenwelt ihrer Patienten begegnen können“ (S. 13). Die passende „Dosis“ an Bezugnahme auf Spiritualität wird sicher abhängig von der beruflichen Rolle und der persönlichen Ausstattung sein. So enthält das Buch natürlich auch Abschnitte zur spezifischen spirituellen Ausgestaltung im Arbeitsfeld der Krankenhausseelsorge. Aber ich teile die Ansicht von Weiher, dass Spiritualität – die wir vielleicht anschlussfähiger als „existenzielle Begegnung“ umschreiben können – unser ganzes Sein und Wirken durchzieht, nicht durch etwas Besonderes (Zeremonien, Rituale usw.) erst erzeugt wird, sondern vor allem erkannt (gesehen) und entschlüsselt (gewürdigt) werden muss. Genau dafür will dieses Buch eine Hilfestellung („Grammatik“) sein.

Außer natürlich für meine psychoonkologisch Tätige sehe ich dieses Buch als eine nützliche Lektüre an für jede in der Palliativmedizin und der Onkologie arbeitende Person, seien diese in der Pflege oder als Ärzte unterwegs. Gerade für die medizinischen Berufsgruppen kann das Buch von Erhard Weiher eine wichtige Quelle zur Inspiration des eigenen (kommunikativen) Handels sein und eine Hilfestellung auf dem langen Weg zu einer patientenzentrierten (andere würden sagen: ganzheitlichen) Medizin.

Zum Abschluss noch zwei schöne Passagen aus dem Buch, gewissermaßen als Appetitanreger:

„Die für die Praxis entscheidende Frage ist ja, wie die Helfer Zugang zu spirituellen Ressourcen im Menschen finden können, wenn diese nicht in dessen Frömmigkeitspraxis zu beobachten, sondern mit der ganzen Lebenskonstruktion verwoben sind und nicht isoliert auftreten … werden im Folgenden Methoden diskutiert, mit denen die therapeutischen Berufe Patienten direkt nach ihren spirituellen und religiösen Einstellungen fragen können. Viele Menschen jedoch, die uns begegnen, haben heute kein bewusst ausgearbeitetes spirituelles Gedanken- und Wertegebäude mehr, das ihnen Hilfe bietet und doch leben auch sie aus einem inneren ‚Geist‘, der sie inspiriert.- Im Folgenden sollen also auch Möglichkeiten vorgestellt werden, wie die Begleiter zu dieser ‚anonymen‘, der weniger strukturierten spirituellen Dimension ihrer Patienten Zugang finden und sie dort unterstützen können.“ (a.a.O., S. 83).

„Die Medizin versteht ja auch zunehmend mehr von Schmerzbekämpfung; damit bekämpft sie ein wesentliches Symptom der Endlichkeit des Menschen. Sie lässt den Menschen nicht einfach leiden, weil dies nun einmal zum Sterben dazugehören müsse. Alle heimlichen und offenen Vorwürfe, dass die Medizin damit das Sterben als ‚Sterben‘ verhindert und den Weg dorthin verschleiert, gehen nicht nur an der Realität vorbei. Sie missachten vor allem den langen, physischen, sozialen, emotionalen und letztlich auch spirituellen Kampf vieler Menschen gegen den Tod, den sie  mit genau den Mitteln der Maximalmedizin führen. Auch deren Lebens- (und Sterbe-) Leistung will gewürdigt werden. Der Mensch hat das Recht, seinen Krankheitsprozess zwischen Widerstand und Ergebung wesentlich auch mit Hilfe der Medizin zu gestalten und dabei nicht ständig von Idealisten aus sicherer Entfernung bewertet zu werden. Um diesen durch Medizin gestützten Weg zu gehen, braucht es ebenso große innere – also auch spirituelle – Ressourcen, wie für das Sterben selbst.“ (a.a.O., S. 386f; Hv. G.U.).