In den letzten Jahren haben in der Psycho-Onkologie etliche Studien für Aufmerksamkeit gesorgt, die auf unterschiedlichem methodischem Weg die Frage zu klären versuchten, ob die Belastung durch eine Krebserkrankung Menschen vermehrt in den Suizid treibt. Da Suizide im Prinzip sehr seltene Ereignisse sind, lassen sich halbwegs verlässliche Auskünfte nur über lange Zeiträume und sehr große Studien gewinnen. Diese haben gerade wegen der riesigen Fallzahlen dann aber stets den Nachteil, dass nur noch die Oberfläche der Phänomene angekratzt wird, also ob überhaupt ein Suizid erfolgt ist, ohne dass noch auf irgendwelche Aspekte der näheren Umstände oder der zu Grunde liegenden Dynamik ein­gegangen werden kann.

Sogenannte Meta-Analysen, in denen also mehrere, unterschiedlich umfangreiche Studien in einer gemeinsamen Auswertung zusammengefasst werden, bieten sich für die Analyse seltener und sehr seltener Ereignisse dann an. Dies hat eine deutsche Forschergruppe kürzlich unternommen und ihre Ergebnisse jüngst in der renommierten Fachzeitschrift Nature Medicine veröffentlicht. Sie bündelten 28 Studien zur Frage Suizid bei Krebspatienten in einer Auswertung, die damit den Verlauf von etwas über 22 Millionen (!) Patienten erfasste.

Die Autoren dieser Studie fanden heraus, dass das Auftreten der Suizide bei Krebspatienten tatsäch­lich einem Muster folgte. So waren die gewichtigsten Einzelfaktoren, die einen Selbstmord begünstigten: eine relativ frisch zurückliegende Kon­frontation mit der Krebsdiagnose, eine Erkrankung an einem prognostisch eher ungünstigen Krebs (z.B. Lunge oder Pankreas) sowie ein weit fortgeschrittenes Stadium einer Krebserkrankung (unabhängig von der Art des Krebses),l also wenn sich zum Beispiel bereits Metastasen gebildet hatten. Unter den durch Suizid verstorbenen Krebspatienten waren solche Vorläufer dreimal so häufig wie normal zu erwarten bzw. es war umgekehrt das Risiko eines Suizids dreifach erhöht bei Vorliegen eines der eben genannten Merkmale.

Neben solchen medizinischen Aspekten war das Auftreten von Suiziden aber auch von nicht-medizinischen Einflussfaktoren bestimmt. An erster Stelle standen hier soziale und kulturelle Einflussfaktoren.
So waren unter den Suizidpatienten vermehrt solche Personen, die als sozial isoliert bezeichnet werden können, die also keine Angehörigen hatten bzw. in keine lebendigen, sozialen Beziehungen einge­bettet waren. Und es zeigte sich, dass Selbsttötungen durchgängig häufiger in den USA aufgetreten waren, was auf im weiteren Sinne kulturelle Einflüsse hinweist. Denn anders als in anderen Ländern ist in den USA der Besitz von Waffen bekanntlich sehr verbreitet und er wurde erst kürzlich wieder höchstrichterlich als elementares Bürgerrecht aufgewertet. Eine der Konsequenzen ist, dass mit der „Griffnähe“, also der Verfügbarkeit von wirksamen Mitteln zur Umsetzung von Absichten, diese eben auch tatsächlich eher zu Taten führen. Dies erklärt nicht nur die in den USA üblicherweise sehr zahlreichen Todesfälle durch Schießereien, sondern eben auch Selbsttötungen.

So kann es am Ende nicht wirklich verwundern, dass die Autoren der erwähnten Meta-Analyse zu dem Ergebnis gelangen, dass nicht nur einzelne Faktoren ein besonderes Gewicht (im Sinne der Risikovergrößerung) hatten, sondern dass auch insgesamt, also über alle Einzelaspekte hinweg, bei den Krebspatienten eine knapp auf das Doppelte erhöhte Suizidrate aufgetreten war.

Was hat das alles mit halb leeren oder halb vollen Gläsern zu tun?

Sehr viel, denn diese geläufige Redewendung lässt ja anklingen, dass ein und dasselbe Ergebnis mal negativ und mal positiv interpretiert werden kann. Das trifft durchaus auf die eben erwähnte, ver­doppelte Rate an Suiziden zu. Denn man hätte sich angesichts der relativen Seltenheit von Suiziden leicht vorstellen können, dass eine Krebserkrankung die Häufigkeit solcher Ereignisse noch stärker in die Höhe treibt. Aber selbst eine Krebserkrankung mit schlechter Prognose führte „nur“ zu einer etwa dreifach höheren Rate an Suiziden.

Interessant zu wissen wäre, was sich durchschnittliche Leser unter einem relativ erhöhten Risiko am Ende bezüglich der Anzahl der Suizide vorstellen, also wie viel Prozent der Todesfälle bei Krebspatienten auf Suizid entfielen. Vielleicht würde man hier vermuten, es könnten 5 % – 10 % sein? Oder gar noch mehr?

Die Wahrheit ist eine ganz andere: die Rate liegt unter 0,1 % ! Wohlgemerkt: die bereits zweifach erhöhte Rate liegt immer noch unter 0,1 %. Und damit sind wir in der Tat direkt bei dem Titel meines heutigen Beitrags angelangt. Denn der hätte genauso gut lauten können: Die Suizidrate ist bei Vor­liegen einer Krebserkrankung zwar auf das Doppelte erhöht, aber 99,9 % aller Krebspatienten ver­sterben trotzdem an ihrem Krebs (oder an Herzinfarkt, Autounfall usw.), jedenfalls nicht durch Selbsttötung. Das lockt als Nachricht nur niemanden hinter dem Ofen hervor. Mit anderen Worten: hier wird Aufmerksamkeit gelenkt.

Wenn Sie also demnächst in irgendeiner Zeitung oder im Internet lesen, dass Krebs und Selbstmord eine unheilige Allianz bilden, dann können Sie getrost denken, dass hier das Bedürfnis nach Aufmerk­samkeit heischenden Schlagzeilen und klischeehaften Botschaften der Treiber gewesen ist. Stets werden dabei dann relative Risiken bzw. relativ erhöhte Fallzahlen viel wichtiger genommen als der Umstand, dass man in Wahrheit über absolut seltene (wenn auch tragische) Ereignisse spricht. Dies nur als Information zur Immunisierung gegen zukünftige, künstlich herbeigeführte Aufreger.